Leben/Gesellschaft

Hungrig aufs Leben

Am Anfang stand eine harmlose Wette. Zwei Freundinnen, 17 Jahre alt, oberes Normalgewicht. Ihr Ziel: unter 60 Kilo kommen. Laura Pape schafft es als erste, nimmt in einem Monat neun Kilo ab. Dieses Hochgefühl, wenn die Waage weniger anzeigt als am Vortag – unbezahlbar. Laura fühlt sich gut und erfolgreich. Ein paar Kilo noch, dann ist Schluss. Aufhören kann man schließlich jederzeit. Doch Laura findet keinen Schlussstrich. Sie gewinnt die Wette – aber verliert, ohne es zu merken, die Kontrolle über ihren Körper.

"Lebenshungrig" heißt das Buch, in dem die heute 20-Jährige ihren Weg aus der Magersucht beschreibt. Natürlich auch den Weg hinein – aber der soll nicht im Fokus stehen. "Ich möchte aufklären, anderen Betroffenen Mut machen. Ich wollte ein positives Buch über Magersucht schreiben. Man kann es schaffen, wieder gesund zu werden."

Tarnen & täuschen

Laura ist dafür das beste Beispiel, das wird im Gespräch mit dem KURIER rasch klar. Von der Krankheit ist nichts mehr zu sehen. Die Hannoveranerin, 1,71 Meter groß, ist schlank, aber nicht dünn. "Etwa 60 Kilo" wiegt sie heute – genau weiß sie es nicht. Vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen. Während des Gesprächs isst die Jung-Autorin ein Dessert aus Eis und Baiser. Als "Beweis"? "Ach nein, ich esse gerne Süßes. Manchmal ermahnt mich meine Mama, dass ich nicht so viel naschen soll."

Die Mama war es auch, die Lauras Elend vor vier Jahren ein Ende setzte. Beim Mittagessen, aus heiterem Himmel: Ein freier Platz in der Klinik, morgen fahre ich dich hin. Zu ihrer eigenen Verwunderung sträubte sich Laura nicht. "Ich war einfach nur erleichtert. Alleine hätte ich das nicht mehr geschafft."

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47 Kilo wog die Gymnasiastin zu diesem Zeitpunkt, ernährte sich pro Tag von "zwei Brotscheiben, fünf Äpfeln und einer Handvoll Cornflakes". Die Jausenbox krümelte sie voll, damit es so aussah, als hätte sie in der Schule Brot gegessen. "Man macht sich den ganzen Tag Gedanken – wie man es hinkriegt, dass alle glauben, man isst." Erschrockene Bemerkungen anderer zählten nicht. "Ich wollte noch dünner werden. Den normalen Blick auf den Körper gab es nicht mehr." Lauras Leben war zu einer wirren Anhäufung von Zahlen verkommen. Kalorien, Kilogramm, Tabellen. Ein Tag ohne Waage machte sie nervös. "Für ein normales Leben hatte ich keine Zeit und keine Kraft mehr."

In der Klinik musste sie essen. "Sonst hätte ich eine Magensonde bekommen, und das wollte ich auf keinen Fall." Laura schaffte es – nicht zuletzt wegen der anderen Mädchen, die zu Vertrauten wurden. "Vielen gelang es nicht. Die Rückfallquote beträgt 50 Prozent." Ohne eigenen Willen, sagt Laura, hätte sie es nicht geschafft. Sie erinnert sich noch genau an den Moment, als sich der Schalter umlegte. Kurz nach der Therapie sah sie auf der Straße ein dürres Mädchen. Der leere, traurige Blick, der schwache Körper – nein, so wolle sie nicht sein.

Lebensfreude

Langsam kam das Leben in Laura zurück. Der Wunsch, wieder mal Nutella aufs Brot zu schmieren. Einen Kuchen zu backen. Freundinnen zu treffen – in einem Café, einem Restaurant. "Alle gingen feiern, hatten einen Freund. Nur ich verschwendete meine Zeit mit Kalorien zählen."

Heute verlässt Laura morgens das Haus – sie macht eine Ausbildung bei einem Verlag – und kommt spät abends heim, "weil ich so viele Leute treffe". Ihr zweites Buch – "ein Roman über die Liebe" – erscheint im Frühjahr. Dann will sie ein Volontariat bei einem Radiosender machen.

Laura hat die Kontrolle über ihr Leben wieder. "Bei Magersucht geht es nur um Kontrolle", sagt sie heute. "Wenn man wieder zunimmt, glaubt man, die Kontrolle zu verlieren. Jetzt weiß ich, dass man eigentlich nur gewinnt.

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Googelt man "Ana Blogs" (von Anorexia nervosa, siehe unten), offenbart sich eine erschreckende Trefferliste. "Skinny in the City" oder "Dünner – noch besser" heißen die Online-Tagebücher, in denen Mädchen über ihre Sehnsucht nach Size Zero schreiben – oder Triple Zero, eine jüngst von Abercrombie & Fitch eingeführte Damengröße, die dem Hüftumfang siebenjähriger Mädchen entspricht. Die Bekleidungsfirma wurde für diese Aktion heftig kritisiert.

Schockierend offen geben "Pro Anas" oder "Pro Mias" (von Bulimie) in ihren Blogs Tipps zur Appetitzügelung bzw. zum selbst herbeigeführten Erbrechen, listen Abführmittel auf und posten Fotos von dürren Idolen. Diese sind nicht nur Models, sondern auch unbekannte Frauen – Hauptsache abgemagert. Bilder von Übergewichtigen sollen abschreckend wirken. "Das ist so ekelhaft", steht unter einem Foto. Laura Pape hat diese Blogs auch gelesen, hatte sogar selber einen. "Ein Wahnsinn, was im Internet abgeht. Mädchen posten Fotos von ihren Knochen und die anderen schreiben, wie gut das aussieht", sagt sie rückblickend.

Alleine durch das Lesen dieser Seiten werden Mädchen aber nicht anorektisch, sagt Karoline Amlacher- Ukobitz, Psychotherapeutin mit Schwerpunkt für Essstörungen – eine Tendenz müsse davor schon vorhanden sein. Die Blogs hält sie trotzdem für "extrem schädlich": "Sie prolongieren das Leid, weil sie einer Therapie entgegenwirken. Die Jugendlichen spornen sich im Internet gegenseitig so an, dass es für andere noch schwerer wird, zu helfen." Vor allem Mädchen in der Pubertät, zwischen zwölf und 16, finden online Bestätigung, so die Expertin.

Auch Männer betroffen

In die Praxis von Amlacher-Ukobitz kommen aber auch Männer. "Bei ihnen ist die Krankheit schwerer zu erkennen, da sie in der Pubertät ohnehin schlaksiger werden." Trend-Sportarten wie Skispringen würden zu einem verzerrten Körperbild der jungen Männer beitragen. Essstörungen werden bei Männern zu selten diagnostiziert, analysierte die University of OxfordMagersucht gelte immer noch als "Frauenkrankheit".

Magersucht

Eine von 100 jungen Frauen zwischen zwölf und 25 Jahren leidet an Anorexia nervosa. Ein Viertel der Erkrankten sind Männer. Magersucht kennzeichnet sich durch auffälligen Gewichtsverlust und die irrationale Angst, zuzunehmen. Die Behandlung dauert meist mehrere Jahre.

Bulimie

Etwa 40 Prozent der Magersüchtigen leiden auch an Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa, "Ochsenhunger"). Die meist über 15-Jährigen essen heimlich große Mengen ("Fressattacken"), um diese danach zu erbrechen. Bulimie ist für Außenstehende schwer zu erkennen, da die Betroffenen in der Regel normal schlank sind.