"Die Mehrheit will das Gymnasium"
Von Ute Brühl
Das Gymnasium kommt in der bildungspolitischen Debatte kaum vor – außer es geht um seine Abschaffung. Karlheinz Töchterle, ehemaliger Wissenschaftsminister und Professor für Latein und Griechisch, erläutert, was die Stärke der AHS ist, was sie vermitteln soll und warum er über die Gesamtschule diskutieren will.
KURIER: Sie sind Altphilologe und somit Vertreter des Gymnasiums. Warum sind Sie dennoch offen für eine Gesamtschule?
Karlheinz Töchterle: Weil ich vor allem in Ballungsräumen Entwicklungen sehe, wo ich mir denke: Da muss man etwas tun! Ob die Gesamtschule die Lösung ist, ist wieder eine andere Frage. Aber man sollte als Demokrat offen diskutieren, und nicht einfach nur sagen: "Mit uns nicht." Allerdings: Wenn ich jetzt sehe, wie heftig der Widerstand gegen die Gesamtschule in einer möglichen betroffenen Region ist, stelle ich mit einem gewissen Erstaunen fest, dass ich mich wohl getäuscht habe. Laut Umfragen will eine Mehrheit das Gymnasium beibehalten. Wenn das so ist, soll es mir auch recht sein.
Heißt das, dass man ideologiefrei diskutieren muss?
Ich weiß nicht, ob es ideologiefrei geht. Etwas, was eindeutig ideologisch geprägt ist, ist die Vorstellung über die Begabung und Lernfähigkeit von Kindern. Da gibt es extreme Positionen. Die einen sagen, dass das Milieu fast alles entscheidet – und die Schule Nachteile kompensieren muss. Man kann aber auch sehr plausibel der Meinung sein, dass Kinder unterschiedliche Begabungen haben – und dass man auch das Elternhaus nicht vollkommen ausgleichen kann. Dann tendiert man zu einer differenzierten Schule.
Können Gesamtschulen humanistische Bildung vermitteln?
Auf jeden Fall. Wobei sich die Frage stellt, was humanistische Bildung bedeutet. Die engste Definition ist, dass die Antike eine Rolle spielt. Etwas weiter gefasst ist sie eine Allgemeinbildung und eine am Individuum orientierte vielseitige Bildung ohne enge ökonomische und sonstige Zwecksetzungen.
Was ist die Antwort auf Probleme in den Ballungszentren? Auch in den AHS werden die Klassen heterogener.
Man muss auf diese spezielle Situation mit speziellen Antworten reagieren. Die ganz treffsichere Antwort habe ich nicht. Offensichtlich haben wir extreme Probleme mit der Unterrichtssprache Deutsch, was für Migranten und Kinder bildungsferne Schichten gleichermaßen gilt. Das ist ein Schlüssel: Wir kommen um eine forcierte Förderung der Deutschkompetenz nicht herum. Da sind die Konzepte unterschiedlich. Diejenigen, die davon träumen, dass alle gleich sind und durch unterschiedliche Milieus ungleich werden, sagen, dass wir alle gleich behandeln müssen. Alles "nur" integrativ zu machen, halte ich für zu wenig.
Wohin soll sich das Gymnasium weiterentwickeln?
Es ist die Frage, warum es nicht bleiben darf, wenn es funktioniert. Das Gymnasium hat sich immer verändert: Zu Beginn unter Humboldt wurde viel Griechisch und Latein unterrichtet, später legten andere Fächer zu, etwa Deutsch und die neuen Sprachen, und Mädchen wurden aufgenommen. Das Privileg, allein zur Universitätsreife zu führen, ist gefallen. Einen Kern aus der Gründungszeit hat es sich bewahrt: Es hat immer noch den sprachlich literarisch-kulturellen Zuschnitt, auch wenn jetzt Naturwissenschaft, EDV etc. wichtig sind.
Thema Zentralmatura: Besteht die Gefahr, dass punktuell und nur auf den Test gelernt wird?
Die Zentralmatura könnte die Gefahr in sich bergen, dass wir weg von Inhalten hin zu formalen Fähigkeiten kommen. Ich selber habe fachdidaktische Veranstaltungen gemacht, wo die Zentralmatura eingeflossen ist – die Latein- und Griechischmatura wurde ja vor allem in Innsbruck von "meinen Schülern" entwickelt. Segensreich war, dass man sich intensiv mit der Frage von Prüfungsgestaltung beschäftigen musste. Da hat man ein hohes wissenschaftliches Niveau erreicht und eine Prüfungsform entwickelt, die auf die Schularbeiten zurückwirkt. Sie sind besser und einheitlicher – was natürlich nicht nur positiv sein muss.
Wo sehen Sie die Stärke des Gymnasiums im Vergleich zu den berufsbildenden Schulen?
Ich bin ein großer Freund der BHS. Viele wissen gar nicht, was wir da im internationalen Vergleich Hervorragendes haben. Die fundierte Allgemeinbildung kommt dort zugunsten einer spezifischen Ausbildung aber etwas zu kurz.
Zurück zur AHS: Die IG Autoren fordert einen Literaturkanon.
Der Kanon wird immer mehr eine Utopie. Es ist schwer zu sagen: Was kommt da hinein und wer bestimmt das? Man kann sogar darüber diskutieren, ob Goethe drin sein muss. Das sage ich als Germanist, der Goethe schätzt. Er war Lichtgestalt der deutschen Literatur, wird aber für die Bildungswirkung junger Menschen überschätzt. Da sind andere Autoren geeigneter, zum Beispiel Dürrenmatt.
Gut. Aber der Druck auf Lehrer steigt, keine Literatur zu lesen, sondern Textformate zu üben.
Auch das ist natürlich nicht unwichtig, aber üblicherweise ist ein Germanist interessiert, seinen Schülern literarische Texte näherzubringen. Am wichtigsten ist eine gute Fachausbildung der Lehrer. Da krankt es vor allem an den Neuen Mittelschulen, wo sehr oft Fachfremde unterrichten.