Leben/Gesellschaft

Die übersexualisierte Gesellschaft

Popstar Miley Cyrus bedeckt ihre Brüste mit nichts als silbernen Hosenträgern, Beyoncé trägt bei der wichtigsten Modeveranstaltung des Jahres ein transparentes Kleid. Die Rapperin Nicki Minaj macht bei ihrem Auftritt vor Millionenpublikum eindeutig-anzügliche Bewegungen. Sadomaso-Romane für Frauen werden zu Bestsellern. Und sogar der Tatort, die traditionsreiche Fernseh-Institution am Sonntagabend, beginnt neuerdings gerne mal mit einer heißen Sexszene.

Alles zu viel, kritisiert Ingelore Ebberfeld. Die renommierte Sexualwissenschaftlerin und Kulturanthropologin ortet den "sexuellen Super-GAU" in unserer Gesellschaft – und schreibt darüber in ihrem neuen, gleichnamigen Buch (es ist ab morgen, Montag, erhältlich). Im ausführlichen Interview mit dem KURIER erzählt die 63-Jährige, welche gesellschaftlichen Entwicklungen ihr Sorgen machen, wie wichtig Schamgefühl für unsere Gesellschaft ist und warum sie sich ein pornofreies Internet wünscht. Und weshalb sie sich jetzt schon darauf einstellt, für ihre Meinung angegriffen zu werden.

KURIER: Ihr Buch liest sich ziemlich besorgt. Was hat Sie denn so beunruhigt?Ingelore Ebberfeld: Als mich eine 14-Jährige fragte, ob Analverkehr normal sei. In diesem Moment war ich erstmal sprachlos, weil das ja eine sehr intime Frage ist. Ich fand es nicht problematisch, ich habe nur gedacht: Hättest du dich das damals auch getraut? Das wäre für meine Generation unvorstellbar gewesen. Wenig später erzählte mir eine Frau, ihr Mann habe sie gebeten, Analverkehr auszuprobieren. Da hat es bei mir Klick gemacht. Wie kommt es, dass etwas, das früher quasi nicht existierte, heute Usus scheint?

Welche Antworten haben Sie dafür gefunden?

Ganz klar: Der Ursprung liegt in der Pornografie. Durch die Pornowelt werden neue Standards vermittelt, etwa, wie Brüste auszusehen haben oder wie lang ein Penis sein soll. Ein weiteres Beispiel ist die Schamenthaarung in der westlichen Welt, sie kommt ebenfalls eindeutig aus diesem Milieu. Gleiches gilt für frivoles Verhalten: Was man früher verbarg oder nur im intimen Zusammensein machte, wird heute öffentlich auf der Bühne gezeigt. Das gilt auch für die Entblößung. Einst war nackte Haut bestenfalls auf einem Ball möglich, indem Schultern oder Dekolleté gezeigt wurde. Wer heute so auftritt, auch im Alltag, zeigt praktisch nichts.

Ist das nicht eine positive Entwicklung? Man könnte auch sagen, dass Frauen heute endlich freier sind als vor 60 Jahren.

Ist frei, wer ständig Körper gezeigt bekommt, die perfekt sind? Die fotografisch nachbearbeitet werden, sodass keine Fett-Rundungen oder Falten zu sehen sind? Bedeutet das nicht, dass wir neue Standards schaffen, unter denen Menschen leiden? Schönheitschirurgen haben immer mehr Zuspruch, weil Menschen immer mehr unter Druck geraten, nicht mehr normal auszusehen. Mit 65 Jahren hat man noch einen straffen Busen und volles Haar zu haben. Gerade dieser Jugendkult bedeutet, dass sehr viele mit ihrem Körper hadern.

Und jetzt – fallen wir zurück in die 1950er-Jahre?

Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, damit wir zurück in die 1950er gehen. Die Auflehnung gegen die Prüderie damals hatte ihren Grund. Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu zeigen: Wir könnten glücklicher mit uns sein, wenn wir weniger Druck hätten, immer sexy sein zu müssen.

Neben der Porno- kritisieren Sie auch die Medienwelt.

Die Porno-Überflutung ist das eine. Andererseits ist es so, dass sich peu à peu bestimmte Verhaltensweisen, Entblößungen und obszöne Gesten etabliert haben, die sich in den Medien immer häufiger wiederfinden. Und die so standardisiert wurden, dass eine Person, die sich darüber mokiert, als Hinterwäldler abgestempelt wird. Auch ich bin darauf gefasst, angegriffen zu werden, weil ich moralisch argumentiere.

Was genau ist moralisch so verwerflich?

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Wir werden mit Sexualität bombardiert. Das ist nicht gesund für die Selbstwertentwicklung von Elf- oder Zwölfjährigen. Kinder erfahren eine Sexualisierung, der sie überhaupt nicht gewachsen sein können. Und es geht ja nicht nur um Kinder, sondern auch um Erwachsene, die ständig ein Bild vorgesetzt bekommen, dem sie nicht entsprechen können. Das heißt, dass wir in dieser Hinsicht gar nicht glücklich werden können.

Wie könnte man dieser Entwicklung entgegensteuern?

Die Zigarettenwerbung wurde verboten, also müsste es auch irgendwelche Mittel geben, Kinder und Jugendliche zu schützen. Das Zweite wäre, dass jemand, der sich zum Beispiel einen Film mit Sexszenen ansieht und sagt, ob das schon wieder sein müsse, nicht für verrückt erklärt wird. Stattdessen sollte gefragt werden, ob Sexualität nicht anders darstellbar ist. Wieso wird jemand in eine Intimität hineingezogen, die man gar nicht möchte? Welche Form von Erotik ist das überhaupt? Berührt sie uns tatsächlich oder werden wir durch das Schockierende nur dazu gebracht, weiterzuschauen? Sind wir nicht schon so abgestumpft, dass wir das Normale heute gar nicht mehr fühlen können?

In Ihrem Buch prangern Sie an, dass die Scham verloren geht. Warum ist Schamgefühl so wichtig?

Wir haben gelernt, unseren Körper in der Öffentlichkeit auf eine bestimmte Art und Weise zu präsentieren – etwa, dass Frauen nicht breitbeinig sitzen sollen. Das bedeutet, dass Scham eine Funktion hat, nämlich, einen neutralen Raum zu schaffen. Scham bedeutet, dass wir miteinander umgehen können und wissen, wo die Grenzen sind – wo zum Beispiel unser Blick hingehen darf. Keine Frau würde es zulassen, dass ein Mann mit ihr redet und ihr dabei permanent auf die Brustwarzen schaut. Das wäre eine Grenzüberschreitung. Von daher ist Scham dafür geschaffen, dass wir wissen, wie weit wir gehen dürfen, um neutral miteinander umgehen zu können und ein gesellschaftliches Leben, wie wir es führen, möglich zu machen. Das gilt für alle Kulturen.

Was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir einen gesunden Umgang mit der Sexualität. Ich wünsche mir ein pornofreies Internet. Ich wünsche mir, dass sich 14-Jährige nicht die Frage nach Analverkehr stellen müssen. Und ich wünsche mir für Frauen, sie könnten den Begriff "Anti-Aging" aus ihrem Gehirn streichen. Gegen das Alter – diesen Kampf kann man gar nicht gewinnen!

Was ist für Sie eine "gesunde Sexualität"?

Jedenfalls nicht, dass man von jemandem etwas verlangt, was in Pornos mittlerweile Standard ist oder in Hardcore-Pornos vermittelt wird. Wer heutzutage das, was als "Blümchensex" bezeichnet wird, gut findet, gilt ja schon als nicht normal. Es gibt Paare, die nach 15 Jahren ohne genitale Sexualität leben – na und? Wenn diese Menschen glücklich sind, warum wird ihnen eingeredet, dass sie abnormal sind?

Was haben Sie dem 14-jährigen Mädchen damals geantwortet?

Ich habe ihr gesagt, dass sie immer darauf achten soll, dass es ihr gut geht, und dass sie nur das tun soll, was sie selbst gerne möchte.

Zur Person:

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Dozentin & Autorin:Ingelore Ebberfeld (Jahrgang 1952) ist Kulturanthropologin und Sexualwissenschaftlerin und lebt als freie Autorin und Dozentin in Bremen.
Sie publizierte zahlreiche Bücher zum Thema Liebe und Sex, darunter „Von der Unmöglichkeit der Liebe“ und „Blondinen bevorzugt“. Bekannt wurde sie mit ihren Büchern über Küsse und das Verhältnis zwischen Sexualität und Körpergeruch.

Neues Buch: Das Sachbuch„Der sexuelle Supergau – Wo bleiben Lust, Scham und Sittlichkeit“ (416 Seiten, 23,70 €) erscheint morgen, am 5. Oktober,
im Westend-Verlag.