Die Zukunft der Sonderschüler
Von Ute Brühl
Sonderschule abschaffen – ja oder nein? Wissenschaftler, Lehrer und Eltern sind in dieser Frage gespalten. Für Gottfried Biewer von der Uni Wien, dessen Schwerpunkt die inklusive Pädagogik ist, ist das Ziel klar: "Sonderschulen sollen eines Tages der Geschichte angehören. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, der begleitet werden muss, um Eltern und Lehrern die Ängste zu nehmen."
Der erste Schritt müsse sein, in der regulären Schule Strukturen zu schaffen, die eine Inklusion möglich macht – also, dass Kinder mit und ohne Sonderförderbedarf gemeinsam lernen. Doch wer einen Blick in die Klassenzimmer wirft, der stellt fest: Was in der Theorie schön klingt, funktioniert in der Praxis nur manchmal. Gibt es Probleme, werden Lehrer oft alleingelassen. Denn in den Schulbehörden regiert die Ideologie: Inklusion hat zu funktionieren. Scheitern ist da nicht vorgesehen. Punkt.
Da nützt es wenig, dass das Bildungsministerium auf die Modellregionen ohne Sonderschulen verweist, die es bereits gibt. Ab 2020 sollen sie in ganz Österreich möglich sein, falls die jeweiligen Länder das wollen. Doch für eine gelungene Inklusion braucht es ausreichend Autonomie – die wird es für Schulen nicht so schnell geben.
Forscher Biewer kennt die Schwierigkeiten der Praxis: "Es braucht Unterstützungsstrukturen, die sich an der konkreten Situation orientieren", fordert er deshalb. "Wenn etwa ein Schüler permanent aggressiv ist, muss er zeitweise 1:1 von einer Fachkraft betreut werden, die das in den Griff bekommt. In anderen Situationen reicht es aus, wenn Lehrer stundenweise unterstützt werden. Das muss man von Fall zu Fall entscheiden und weniger ideologisch angehen. Die Methode der Wahl heißt Differenzierung, die es ermöglicht, dass Kinder in unterschiedlichem Tempo lernen. Digitale Medien sind da eine große Hilfe. " Reformpädagogik statt Frontalunterricht also. Dazu braucht es Schulautonomie, in der vor Ort über Einsatz von Ressourcen entschieden wird.
Neue Generation
Der Wissenschaftler setzt auf eine neue Lehrer-Generation. "Mit der neuen Pädagogenbildung, die im Herbst beginnt, wird ein Kulturwandel eingeleitet. Inklusion wird für alle Studenten wesentlicher Teil der Ausbildung. Vermittelt wird nicht nur, wie man Kinder mit Behinderungen in den Unterricht einbezieht, sondern wie man mit Verschiedenheit an sich umgeht – Migration, Sprache, Religion oder Geschlecht sind Thema."
Den klassischen Sonderschullehrer wird es nicht mehr geben – Studenten können inklusive Pädagogik als zweites "Fach" wählen, das Kinder mit Behinderung sowie sozialemotionalen Störungen im Fokus hat. In der Praxis heißt das: Statt Lehrer für Englisch und Musik ist man z.B. Experte für Englisch und Sonderpädagogik.
In der Schule soll der Inklusionspädagoge Ansprechpartner und Koordinator für die Inklusion sein. Und er soll die Schulentwicklung vorantreiben, sodass am Standort ein optimales Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung möglich ist.
Dass gemeinsames Lernen teurer käme als das jetzige System, glaubt Biewer nicht: "Die Kosten der Sonderschulen werden unterschätzt. Wenn man deren Aufwand für Gebäude, Fahrten etc. komplett dem Regelsystem zuschlägt, kann eine qualitativ hochwertige Inklusion kostenneutral gelingen. Man darf nur nicht den Fehler machen, Regelschulen Budgets zu geben, die diese anderweitig verwenden. Inklusion ist nicht billiger als Sonderschulen. Wer durch die Abschaffung der Sonderschulen sparen will, wird keine Lehrer dafür gewinnen."
Skepsis
Viele Eltern und Lehrer bleiben skeptisch. Kinder brauchen Kinder, mit denen sie auf Augenhöhe kommunizieren können – so ihr Argument. Biewer will Inklusion deshalb nicht zu ideologisch sehen: "Man kann natürlich nicht alle Strukturen in allen Schulen schaffen, manche Behinderungen sind so selten, dass man Kindern zumuten kann, den Nachbarbezirk zu besuchen, weil es dort Fachpersonal gibt. Bei Gehörlosen gibt es das in Wien ja schon, einzelne Klassen, die bilingual unterrichtet werden – in Laut- und Gebärdensprache. Generell sollten Klassen so zusammengesetzt sein, dass Freundschaften entstehen können. Schwerpunktklassen widersprechen der Idee der Inklusion nicht."
§ 24 besagt, dass Bildung inklusiv sein soll. Für die meisten Pädagogen heißt das, dass die Sonderschulen abgeschafft werden sollen.
Situation in ÖsterreichSeit 1993 können Eltern entscheiden, ob sie ihr Kind in eine Sonder- oder eine Regelschule mit Integrationsklassen geben. Wobei es regional große Unterschiede gibt – in der Steiermark lernen 82 % der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) in Regelklassen, in Niederösterreich sind es 32 %. Die Kosten für Sonderschulen sind besonders hoch: Für einen Schüler werden laut nationalem Bildungsbericht 30.900 Euro ausgegeben – zum Vergleich: für Hauptschüler 9150.
Früher, erinnert sich Susanna Patschka, war die Sonderschule Endstation: "Sie kam einer Festung gleich, aus der niemand ausbrach, weil die Lehrer sich genierten, mit den Kindern nach draußen zu gehen." Als Patschka Direktorin einer Sonderschule in Wien-Donaustadt wurde, wollte sie das ändern. 20 Jahre ist das her. Viel hat sich seither verändert.
"Niemand soll in einem Getto leben, weder Migranten noch Kinder mit besonderen Bedürfnissen", sagt die mittlerweile pensionierte Direktorin: "Jeder Standort muss einen Weg finden, um mit unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler zurechtzukommen." Doch wie gelang es ihr, "normale" Kinder für ihre Schule zu gewinnen? "Ich ging auf Werbetour in Volksschulen, von denen ich wusste, dass sich dort die Eltern Reformpädagogik wünschen. Genau das habe ich ihnen angeboten. Unterstützt hat mich dabei immer der Bezirksschulinspektor."
Das Miteinander von Kindern ist in der Lernwerkstatt Donaustadt, wie sich die Schule nennt, Alltag. Das heißt nicht, dass immer alle Kinder gemeinsam im Klassenzimmer sitzen: "Wir haben ein modulares System, wo Kinder gemeinsam und auf unterschiedlichem Niveau lernen können. Es gibt z. B. Forscherwerkstätten oder die Arbeit mit den Lernschachteln. Daneben gibt es Powerkurse für die Kinder, die in weiterführende Schulen gehen wollen. Plan- und Projektarbeiten ermöglichen eine große Individualisierung. Wesentlicher Erfolgsfaktor ist das Lehrerjahrgangsteam: "Das kann autonom entscheiden, wie es unterrichtet, und ist für den Lernfortschritt verantwortlich. Teamsitzungen sind Pflicht." Der Lehrer ist so nicht Einzelkämpfer, sondern Teil eines Ganzen.
Leidenschaft
Überhaupt sind Pädagoginnen und Pädagogen zentral: "Sie sollen sich mit ihren besonderen Fähigkeiten und Leidenschaften einbringen", so Patschka. Das gilt nicht nur für "ihr" Fach: "Eine Pädagogin ist z. B. begeisterte Theatermacherin, ein Kollege guter Musiker – alle Talente sollen in den Unterricht einfließen." Auch externe Experten wie Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter sollten an Schulen selbstverständlich sein: "Alles in allem müssen wir Zonen schaffen, in denen Kinder Angebote erhalten, die ihren Interessen entsprechen und ihre individuelle Entwicklung fördern. Dann gelingt Schule."
Dazu brauchen Standorte Autonomie – hierfür fehlen die rechtlichen Rahmenbedingungen. Das müsste man angehen: "Würde man so viel Energie in die Inklusion stecken wie in die Entwicklung des neuen Schulverwaltungsprogramms gesteckt wurde, wäre viel gewonnen."