Beziehungskiller Alltag: Warum die Liebe nur mit Vernunft gelingt
Der Alltag frisst die Liebe auf. Nach einigen Ehejahren erleben die Schmetterlinge im Bauch eine Bruchlandung. Eine aktuelle Studie der Carnegie Mellon University in Pittsburgh hat das große Entlieben jetzt genauer unter die Lupe genommen und kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Frauen „entlieben“ sich in der Ehe schneller als Männer. 55,2 Prozent der Frauen in längeren Beziehungen gaben an, seltener Gefühle der Liebe zu empfinden, wenn sie Zeit mit dem Partner verbringen. Bei Männern nehmen die Liebesgefühle im Laufe der Zeit aber nur um 9,2 Prozent ab. Die Gründe: Mit zunehmender Dauer der Beziehung verbringen Frauen mehr Zeit mit Hausarbeit und Kindererziehung. Männer hingegen drücken sich gerne vor diesen Aufgaben. Der Alltag wird zum Liebeskiller.
Die Gefühle sind weg
Waren früher die Gründe für eine Scheidung finanzielle Schwierigkeiten, Sucht oder Untreue, sind es heute die Gefühle, die nicht mehr passen. Für den deutschen Psychotherapeuten Arnold Retzer ist das nicht verwunderlich. Der Autor des Buches „Lob der Vernunftehe“ hat eine klare Position: „Eine Liebesbeziehung ist nicht mit dem Leben vereinbar. Der erste terroristische Angriff auf die Liebe ist die Geburt eines Kindes. Wenn Paare jetzt noch die Illusion haben, es könnte mit der Liebesbeziehung weitergehen wie vorher, haben sie ein Problem. Die Organisation des Alltags ist eine Herausforderung, die nicht durch Liebe gemeistert werden kann, sondern nur durch Vernunft.“ Sein Fazit: Paare, die eine langjährige, zufriedene und stabile Ehe führen wollen, müssen in eine Vernunftehe übergehen. Aber was meint der Psychotherapeut damit genau? „Die Vernunft weiß um die Grenzen von Vorstellungen und sie berücksichtigt die Erfahrung. Die Vernunft macht weiter, mit dem, was funktioniert und hört auf, mit dem, was nicht funktioniert.“
Die Grenzen einer Ehe
Es ist in der Ehe eben doch nicht alles möglich, was man sich in der Verliebtheitsphase ausgemalt hat. Damit meint Retzer, dass die unendliche Unterstützung, die sexuelle Aktivität bis ins hohe Alter und die Gerechtigkeit in einer Beziehung Grenzen hat. Man wird enttäuscht, wenn man unbegrenzte Erwartungen habe. Retzer nennt ein konkretes Beispiel: „Viele Paare heiraten und am Hochzeitstag sagt man sich: Sie oder ihn bekomme ich auch noch hin. Es wird versucht, den Partner so zu verändern, wie man ihn gerne hätte. Nach zehn oder 15 Jahren hat der Partner noch immer dieselben Macken, aber ein Großteil an Lebensqualität ist auf der Strecke geblieben. Es wäre also vernünftig, damit aufzuhören.“ In vielen Fällen würden die Betroffenen erkennen, dass wenn sie aufhören, den Partner verändern zu wollen, sich dieser von selbst verändert. „Weil er sich nicht mehr verteidigen muss“, so der Psychotherapeut.
Ist die Vernunft eine Garantie?
Doch hat eine Vernunftehe auf Dauer Bestand oder hat auch sie ein Ablaufdatum? „Hat sie“, sagt Retzer. Wenn es zum Beispiel aus der Sicht von einem zu einer Verschuldung kommt. Das wäre bei einer Affäre der Fall. Retzer: „Wenn man dann auf Gerechtigkeit pocht, wird es schwierig. Der gerechte Ausgleich ist die Grenze der Vernunftehe. Wenn man das Gefühl hat, nicht mehr zu bekommen, was einem zusteht, bleibt einem letztlich nur mehr die Rache. Rache ist der Versuch, dass es dem anderen so schlecht gehen soll wie mir. Erfolgreiche Paare haben gelernt, zu vergeben, und damit die Eskalation durch Rachefeldzüge ausgeschalten.“
Verlieben bleibt unvermeidlich
Doch sollte man schon, wenn man jemanden kennenlernt auf die Vernunft hören oder sich lieber ins rosarote Abenteuer stürzen? Retzer sagt: „Seit 250 Jahren ist die Eintrittskarte für eine Beziehung die Verliebtheit und das wird auch so bleiben. Ich mache mir um die Verliebtheit keine Sorgen, sie ist weiterhin unvermeidlich.“ Warum sich viele Menschen gegen die Vernunft wehren, sei dem überwältigenden Stellenwert der Liebe zuzuschreiben. Retzer: „Alle sind auf der Suche nach der einzigartigen Liebe, in der man so gesehen wird, wie man wirklich ist.“ Die Vernunft hat hingegen ein schlechtes Image. „Die Liebesbeziehung wird so aufgewertet, weil sie letztlich unmöglich ist“, sagt Retzer.