Wieviel Besitz braucht der Mensch?
Das Zimmer in Berlin wirkt leer. Joachim Klöckner, der am liebsten Weiß trägt, hat dort alles zum Leben: eine Hängematte, einen Rucksack, ein Klappfahrrad, einen Karton, auf dem seine Wäsche liegt und eine Schüssel mit Müsli, Saft, Obst.
Sorgen, wohin mit Magazinen und Büchern, die in Regale gequetscht sind, oder T-Shirts, die schnell gekauft, aber kaum getragen wurden, hat der 65-Jährige nicht. Andere tragen sich im Kalender einen "Frühjahrsputz" ein. Oder den Vermerk, alte eMails samt Absendern zu löschen, die man irgendwann auch noch einmal treffen wollte. Projekte, Kontakte, Besitz – alles muss raus. Jetzt. Aus dem Bedürfnis von Menschen, Ballast abzuwerfen, ist ein einträglicher Geschäftszweig entstanden. Ratgeber, Vorträge und Seminare, die dabei helfen sollen, das Chaos zu ordnen und Entrümpelungsdienste, die vieles davon entsorgen.
Andere bezeichnen ihn als Minimalist – für ihn ist das ein Modewort. Klöckner sieht sich weder als Missionar noch als Umweltschützer. "Ich habe mich viel mit Welt-Problematiken beschäftigt. Ich war 15 Jahre als Energieberater tätig, umweltpolitisch engagiert, ausgelöst 1986 durch Tschernobyl. Ich habe spirituell viel ausprobiert. Aber all das sind nur Hilfsmittel, um loszugehen, sich zu verändern, daraus sollte man keine Religion machen, das engt ein und man hat Scheuklappen." Klöckner hat seine eigene Lebensphilosophie gefunden, die vor allem auf Zufriedenheit und Selbstliebe beruht. "Diese wenigen Dinge bedeuten für mich Freiheit, Klarheit, Leichtigkeit und Fokus auf das Wesentliche. Ich muss nicht dafür arbeiten, mir Sachen anzuschaffen, ich brauche keine größere Wohnung, um sie aufzubewahren und vor allem keine Energie, um sie zu entsorgen. Das ist heute das größte Problem."
60 Zahnbürsten
Marie Kondo gilt als Meisterin unter den Profi-Aufräumern. Die 30-jährige Japanerin hat schon bei Menschen die Wohnung entrümpelt, die 60 Zahnbürsten oder 20.000 Wattestäbchen horteten. In ihrem Buch "Magic Cleaning" erklärt sie, wie man dem Gerümpel Herr wird – und belegte damit wochenlang den ersten Platz in der Bestsellerliste der New York Times. Ihr Credo: Behalte nur jene Dinge, die dir wichtig sind und Freude bereiten – der Rest, laut Kondo zwei Drittel des Haushalts, kann entsorgt werden. In dieser Reihenfolge: Kleider, Bücher, Papiere, Kleinzeug, Erinnerungsstücke. Bevor es in die Kiste kommt, sollte jedes Stück verabschiedet werden.
Paradoxes Auslagern
Eine vermeintliche Lösung, um etwas loszuwerden, bieten Mietlager, bekannt als "Selfstorage". Menschen, die sich von Kleidung, Möbeln oder Erbstücken nicht trennen können, mieten Lagerabteile. Sie schaffen sich die Dinge dadurch aber nur aus den Augen. Die Nachfrage ist groß, kürzlich kündigte der Anbieter "My Place" an, das Filialnetz in Österreich, Deutschland und der Schweiz auszubauen. Joachim Klöckner findet das paradox: "Wenn ich Dinge habe, die ich nicht täglich brauche, sondern sie wo hinbringen muss, nur weil ich sie habe – da stimmt doch etwas nicht."
Wenn er sich etwas kauft, dann gezielt. "Ich sehe mir meine Sachen durch, ob Socken oder Pullover löchrig sind, dann entsorge ich sie und kaufe neue." Manchmal gönnt er sich auch Dinge, die teurer sind, wie zum Beispiel ein Fitness-Armband. "Ein Spielzeug, dessen Möglichkeiten mich faszinieren. Es motiviert mich zu mehr Bewegung und ich habe es mir gegönnt, weil es mich bereichert, aber meinen Rucksack nicht belastet."
Obwohl Klöckner wenig besitzt, muss er doch aufräumen. "Ich verbinde das mit einem inneren Aufräumen. Überlege, ob ich zum Zahnarzt gehen sollte, sehe meine Papierzettel durch – da sind derzeit 20 Stück –, und nehme mir vor, meiner Mutter zu mailen. Sie ist 95 Jahre alt." Apropos eMail: Das iPad ist Klöckners wichtigstes Kommunikationsinstrument. Er hat weder Telefon oder Kamera. Auf dem Tablet schreibt er Nachrichten oder seinen Blog. Darauf erzählt er von seiner Lebensstruktur und von bewusstem Konsum. Wer am Ende des Tages frustriert aus dem Büro geht und eine Tasche kauft, fühle sich nur im ersten Moment besser. "Die erste Wirklichkeit ist, zu glauben, dass ich diese Tasche brauche. Die zweite Wirklichkeit ist, dass sie jemanden brauchen, der sie in den Arm nimmt und tröstet."
Manchmal zieht es auch ihn ins Einkaufszentrum. "Es gibt dort tolle Design-Läden. Ich bin immer begeistert vom Ideenreichtum und wie Menschen Dinge kreativ gestalten können. Aber ich habe nie, oder nur ganz selten das Bedürfnis, dass ich das alles haben muss." Davon profitieren seine Mitmenschen: "Wenig tote Dinge erlauben mir viel Zeit und Energie für Lebendiges. Ich treffe mich mit jemandem oder helfe bei etwas mit."
Die Idee, auf die Anhäufung materieller Güter zu verzichten, ist zweieinhalbtausend Jahre alt. Wissenschaftler glauben, dass um 500 v. Chr. der Wohlstand so weit entwickelt war, dass Gesellschaften sich Moral und Askese leisten konnten. Für die Theorie spricht, dass kurz danach Religionen und griechische Philosophen die Abkehr von Materialismus lehrten. Die Ideologie blieb bis heute bestehen.
Die Ablehnung von Besitz ist auch in den Bettelorden und Schriften des Christentums und des Islam bekannt – Verzicht drückt sich in beiden durch Fastenzeiten aus. Auch die Hindu-Religionen kennen die Idee, geistige Erfüllung durch materielle Leere zu erlangen.
Das Motto des "einfachen Lebens" ist aber keine rein religiöse Erfindung, weshalb sie sich auch in westlichen Gesellschaften mit sinkender Religionsnähe zu Trends entwickeln: Minimalismus, Downshifting, LOVOS (Lifestyle of Voluntary Simplicity). Den Anhängern geht es meist um Neuordnung ihres Lebens. In den USA entwickelte sich Verzicht schon Mitte des 19. Jahrhunderts nach den Ideen einiger Schriftsteller zur Subkultur, die bis zu den Amish und der Hippie-Bewegung hielt.
Pioniere des entrümpelten Lebens waren die Philosophen. Die griechischen Denkschulen der Stoiker und der Kyniker beschäftigten sich damit ebenso wie Platon. Der Kyniker Diogenes von Sinope lebte zur Veranschaulichung seiner Bedürfnislosigkeit sogar im Fass.
Einer ihrer Nachfolger, Friedrich Nietzsche, lehnte Materialismus besonders vehement als "sinnleer" und Störung für den Geist ab, Spiritualität entstehe nur aus einfachem Leben. Er sagte dazu: "Der Asket macht aus der Tugend eine Not."