Leben/Gesellschaft

Frühchen: Überleben nach nur 23 Wochen

Mit dem Begriff ,Frühchen' kann ich mich nicht anfreunden, das ist eine Verniedlichung, denn oft sind das ja sehr schwerkranke Patienten", sagt Univ.-Prof. Arnold Pollak, Leiter der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde der MedUni Wien / AKH Wien. "Auch von den extrem unreifen Frühgeborenen (Schwangerschaftswochen 23 bis 27) überleben in unserem Zentrum bereits mehr als 80 Prozent", betont Pollak anlässlich des Tags des frühgeborenen Kindes (17.11.). Von den in Woche 23 Geborenen - "der Grenze der Überlebensfähigkeit" - schafften es am AKH Wien / MedUni Wien im Vorjahr 66 Prozent, international sind es 35 Prozent.

Großen Anteil an diesem Erfolg hat ein in Köln entwickeltes Konzept, das am AKH seit zwei Jahren eingesetzt wird: Die Kinder erhalten die lebensnotwendige Substanz Surfactant ohne künstliche Beatmung.

Surfactant hilft, die Lungenbläschen offen zu halten. Eine ausreichende körpereigene Bildung beginnt allerdings erst etwa mit der 28. Schwangerschaftswoche. Bisher mussten in den Wochen 23 bis 27 geborene Kinder intubiert (Einführen einer Sonde bis zum Kehlkopf) und künstlich beatmet werden - erst dann konnte die Substanz zur Förderung der Lungenreife direkt in die Lunge verabreicht werden. "Seit zwei Jahren kommen wir aber meist ohne die künstliche Beatmung aus", erzählt Univ.-Prof. Angelika Berger, Leiterin der Abteilung für Neonatologie. Die Kinder erhalten lediglich eine Atemunterstützung über die Nase, atmen aber selbstständig (spontan) weiter.

Surfactant bekommen sie 15 bis 30 Minuten nach der Geburt schonend über eine dünne Sonde, die bereits nach fünf bis zehn Minuten wieder entfernt werden kann. "Mögliche Komplikationen einer künstlichen Beatmung - etwa Schäden an Lunge oder Gehirn - können vermieden werden. Für diese Therapie sind zwei Ärzte und zwei spezialisierte Pflegepersonen notwendig."

Nachsorge

Wie gut sich die motorischen und geistigen Fähigkeiten entwickeln, hängt stark von der Nachbetreuung ab. An der MedUni Wien gibt es ein Nachsorgeprogramm, bei dem die Kinder bis zum 6. Lebensjahr regelmäßig ambulant untersucht werden. Pollak: "Dadurch entdecken wir Defizite frühzeitig und können direkt an der Klinik Therapien einleiten." Etwa bei Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefiziten oder motorischen Problemen.

Pollak: "Rund die Hälfte der Frühgeborenen hat heute keinerlei Entwicklungsprobleme. 40 Prozent haben leichte Folgeerkrankungen und benötigen unterstützende Therapien."

Allerdings: Ein Recht auf Nachsorge gibt es nicht", sagt Berger: "Derzeit hängt sehr viel vom Engagement der Klinikleitung ab - auch nach der Entlassung des Kindes."

Info: Jährlich rund 8000 Frühgeburten

Anstieg Alle Geburten vor der Schwangerschaftswoche 37 gelten als Frühgeburten. Weltweit kommt jedes zehnte Kind zu früh, in Österreich lag die Rate 1990 bei 8,1 %, derzeit sind es 11,1 %(8000 jährlich). Gründe für den Anstieg sind Lebensstilfaktoren wie Stress oder Rauchen, ein höheres Alter bei der ersten Geburt sowie die Zunahme von Mehrlingen durch Hormonbehandlungen und künstliche Befruchtung.

Hochrisikogruppe Das sind extrem unreife Frühgeborene zwischen der 23. und der 27. Woche - also um bis zu 17 Wochen zu früh. 2010 wurden am AKH Wien 92 derart frühe Kinder geboren. In den Wochen 23 bis 25 liegt das Geburtsgewicht oft unter 500 Gramm und unter 30 Zentimeter.

Gabriele Kuhn: Eine Handvoll Leben

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Es ist so, ich kann mich dagegen nicht wehren: Sehe ich einen "neuen" Menschen, kommen mir die Tränen. Es ist wohl die "Unschuld",das Hilflose an einem Neugeborenen, das mich so berührt. Das Leben als Möglichkeit, das - noch - in den Händen der Erwachsenen liegt. Ich will beschützen, da sein und die Welt davon abhalten, sich dieses Lebens zu bemächtigen. Insbesondere, wenn ein Kind viel zu früh das Licht der Welt erblickt.

Im Laufe meiner Journalistinnenkarriere hatte ich mehrere Gelegenheiten, die neonatologische Intensivstation des AKH zu besuchen - das erste Mal 1998, zuletzt nach der Ankunft der Fünflinge aus Niederösterreich dieses Jahr im März. Jeder Besuch war eine unvergessliche Erfahrung - überhaupt, wenn man selbst Mutter eines gesunden, normal geborenen Kindes ist. Weil mir bewusst wurde, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.

Ich erinnere mich an Georg, der 1998, bei seiner Geburt nur 470g wog. Da lag er, am Bauch der Mama, die es sich in einem Lehnsessel neben dem Inkubator bequem gemacht hatte. Ich höre noch ihre Worte: "Es ist so schön, dich zu spüren". Eine Handvoll Mensch, der dem Herzschlag der Mama lauscht. Oder Marina - das 476g-Mädchen, das in der 23. Schwangerschaftswoche geboren wurde. Das Kind schlief, ich beobachtete seinen Brustkorb, der sich rasend schnell auf- und ab bewegte. Die Haut - so zart, so durchscheinend. Die Hände - so klein wie eine Briefmarke. Wie es ihnen heute wohl gehen mag?
Dann, viele Jahre später, diese fünf Mädchen: "Österreichs Fünflings-Sensation": Naturgemäß - in der 30. Schwangerschaftswoche - viel zu früh geboren, aber gesund. Gott sei Dank.

Sie alle sind Überlebenskämpfer - an der schmalen Grenze zwischen Sein und Nichtsein balancierend. Auch wenn sie es schaffen, so ist ihre Zukunft mitunter ungewiss. Meine Bewunderung galt und gilt nicht nur ihnen, ihren Eltern, sondern auch den Ärzten, den Intensivmedizinern, Krankenschwestern und Pflegern die Tag für Tag und viele, viele Stunden für das Leben dieser Kinder kämpfen. Speziell die Geburt von Mehrlingen ist eine logistische Herausforderung. Und - im besten Fall - ein Sieg der High-Tech-Medizin über das Schicksal. Ich erinnere mich an eine Ärztin, die die winzigen Körper mit winzigen Schläuchen versorgte - bewundernswert ruhig und besonnen. Und ich erinnere mich an die besondere Atmosphäre dieser Stationen, wo das Personal darum bemüht ist, so wenig Hektik wie möglich und so viel Pflege wie notwendig unter einen Hut zu bringen. Und dabei es noch schafft, den bangenden Eltern beizustehen.

Die wohl allerschönste Geschichte erzählte mir übrigens Arno Pollak, Leiter der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde. Ich frage ihn, ob er manchmal erfährt, was aus den Winzlingen geworden ist. Er antwortete: "Nun, da war dieser junge, große Mann im dunkelblauen Anzug. Er stand plötzlich im Büro vor mir, um mir etwas zu erzählen,. Es stellte sich heraus, dass er - als ich noch ein junger Arzt war - als Frühgeborenes mit 1.200 Gramm im AKH gelegen ist. Seine Mutter hat Tagebuch geführt, in dem sie diese Zeit dokumentierte. Dem Kind ging es schlecht, es schien todgeweiht. Sie hat geschrieben, dass ich nicht vom Bett des Babys gewichen bin und gesagt hätte: "Du bist ein Kämpfer und ich werde hier mit dir kämpfen." Das "Baby" ist heute übrigens selbst Mediziner.


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