Leben/Gesellschaft

Der neue Stammbaum der Europäer

Europa war schon immer ein Schmelztiegel. "Die Migrationsproblematik, die heute aufgeworfen wird, ist keine des 20. Jahrhunderts", sagt der Tübinger Biochemiker Johannes Krause. Im Fachmagazin Nature liefert er den Beweis dafür, dass uns Europäer mehr verbindet als wir glauben. Die meisten von uns stammen von mindestens drei unterschiedlichen Gruppen von Vorfahren ab: Von Jägern und Sammlern aus Westeuropa, den ersten nach Europa eingewanderten Ackerbauern und Viehzüchtern, sowie von einer Population aus Nordeurasien, die auch eine Verbindung zu den Ureinwohnern Amerikas aufweist.

"Je nachdem, wo wir leben, haben wir eine unterschiedliche hohe Anzahl dieser drei Einflüsse in unseren Genen", meint Krause, und nennt ein Beispiel: "Ein in Österreich oder Süddeutschland lebender Mensch hat zu 45 Prozent Jäger und Sammler-Erbgut in sich, zu 45 Prozent Ackerbauer- und Viehzüchter-Gene und zu 10 Prozent ist er genetisch ein Nordeurasier." Anders wiederum bei Menschen in Nordeuropa: "60 Prozent Jäger- und Sammler-Gen, 30 Prozent Ackerbauer- und Viehzüchter, 15 Prozent Nordeurasier." Ursprünglicher sind hinegegn die Sarden: "Sie haben genetisch 90 Prozent der Ackerbauern in sich. Sie sehen quasi so aus wie die frühen Bauern, da hat sich wenig verändert."

Geisterpopulation

Die dritte Gruppe, die Nordeurasier, die nach den ersten Bauern nach Zentraleuropa eingewandert ist, wurde bislang von den Forschern wenig beachtet – sie galt als "Geisterpopulation", sagt Krause. Ihre Entdeckung war für ihn "die größte Überraschung. Wir wussten, dass es eine Verbindung zwischen Europäern und Indianern gibt und haben vermutetet, dass frühe Jäger und Sammler dabei eine Rolle spielen. Wir hatten aber keine Ahnung, woher sie kamen."

Diese zusätzliche Einwanderungswelle fand laut dem deutschen Forscher "vielleicht vor 5000 bis 4000 Jahren statt". Die Zeitspanne, wann die Nordeurasier eingewandert sind, will er mit weiteren Studien eingrenzen. Johannes Krause, der bislang mit Untersuchungen über die zehntausende Jahre währende Geschichte der Neandertaler Bekanntheit erlangt hat, findet die Beschäftigung mit der vergleichsweise kurzen Epoche der Jungsteinzeit und Bronzezeit spannend. "Diese Geschichte betrifft uns alle. Es sind unsere Vorfahren auf die wir da zurückgehen - das sind unsere Ururururur-Großeltern, das ist schon spannend."

Ur-Europäer

Klar ist immerhin, dass sich Jäger und Sammler mit Ackerbauern- und Viehzüchtern schon im Laufe der ersten Einwanderungswelle nach Europa vor etwa 7500 Jahren vermischt haben. Die Menschen bauten Pflanzen an und domestizierten Tiere. Das Erbgut dieser ersten europäischen Bauern weist deutliche Ähnlichkeiten mit jenem von modernen Menschen im Nahen Osten auf. Um die Abstammung der heutigen Europäer aufzuklären, untersuchte Krause mit seinem Team an der Universität Tübingen das Erbgut von neun Ur-Europäern. Das Gen-Material stammt von den Überresten einer 7000 Jahre alten Bäuerin aus Deutschland sowie von acht Jägern und Sammlern aus Luxemburg und Schweden, die vor 8000 Jahren gelebt haben. Deren Erbgut verglichen sie mit jenem von 2345 modernen Menschen weltweit.

Durch die Untersuchungen lernten die Forscher die Ernährungsgewohnheiten unserer Vorfahren kennen: "Sie haben viel stärkehaltige Nahrung zu sich genommen." Äußerlich haben sich die Bauern von den Jägern deutlich unterscheiden lassen, da sie eine hellere Haut und meist braune Augen hatten. Die helle Haut ist kein Resultat ihrer späteren Migration in den kühleren, dunkleren Norden, wie lange vermutet worden ist. Um das Bild zu vervollständigen, plant Krause eine Studie über die allerersten Menschen in Europa, eine Einwanderungswelle, die vor 40.000 Jahren stattfand.

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Zur Person:Johannes Krause (geb. 1980) ist Biochemiker mit Schwerpunkt zu historischen Infektionskrankheiten und der menschlichen Evolution. Seit 2010 ist er Professor für Archäo- und Paläogenetik an der Universität Tübingen. Seit Mitte 2014 ist er Direktor am „Max-Planck-Institut für Geschichte und Naturwissenschaften“ in Jena.
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Durch Genanalysen lässt sich die Siedlungsgeschichte Europas nachvollziehen – der Genpool mischt sich schon seit der Steinzeit. Ein Blick auf die wichtigen Kulturen von der Mittelsteinzeit (ab der Wiederbewaldung nach der letzten Eiszeit) bis in die Bronzezeit – über einen Zeitraum von 6000 Jahren:

Am Ende der mittleren Steinzeit vor ca. 7500 Jahren wurden die europäischen Ureinwohner von Kulturträgern der sogenannten Linearbandkeramik fast völlig verdrängt. Letztere strömten aus dem Nahen Osten, dem Kaukasus und Anatolien herbei und führten die Landwirtschaft ein. Die Jäger- und Sammlerkultur wurde dabei nicht sofort zerstört, sie lebte noch 2000 Jahre fort.

Vor 6000 bis 5000 Jahren drangen jungsteinzeitliche Bauern von Zentraleuropa aus immer weiter nach Norden bis Skandinavien vor. Für die beginnende Bronzezeit wiesen Forscher der Universität Mainz und australische Kollegen weitere Wanderungsbewegungen nach: Schnurbandkeramiker kamen aus dem Osten, Kurgan-Menschen aus Sibirien und dem heutigen Kasachstan. Die letzte Umwälzung begann vor 4500 Jahren mit dem Vordringen der Glockenbecherkultur aus dem Westen Europas. Die Verteilung der Gene in der Bronzezeit ähnelte der heutigen schon sehr stark.