Leben/Gesellschaft

Eltern und Lehrer auf Augenhöhe

Die Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule im deutschen Göttingen macht fast alles anders: Statt Noten gibt es Entwicklungsberichte. Statt Frontalunterricht lernen Schüler zu sechst in Tischgruppen. Auch die Elternarbeit ist hier ungewöhnlich. Im KURIER-Interview spricht Direktor Wolfgang Vogelsaenger über die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern. Wie diese erfolgreich funktionieren kann, darüber diskutiert er bei einer Diskussion der Initiative "Bildung grenzenlos" am Mittwoch, 26. Februar in Wien (18:15 Uhr im Rudolf Sallinger-Saal der Wirtschaftskammer Österreich, Wiedner Hauptstraße 63, 1040 Wien, nähere Infos unter www.bildunggrenzenlos.at)

KURIER: Warum schlagen Sie in der Zusammenarbeit mit den Eltern neue Wege ein?

Wolfgang Vogelsaenger:Das hat historische Gründe. Als die Schule vor 40 Jahren am grünen Tisch entwickelt wurde, überlegten sich engagierte Eltern: Wie muss eine Schule sein, die unseren Vorstellungen genügt? Sie haben das Konzept mitentwickelt.

Wie begegnen Eltern und Lehrer einander in Ihrer Schule?

Schon das erste Kennenlernen ist anders. Unser Tag der offenen Tür findet an einem Samstag um 10 Uhr statt. 1200 Eltern, Großeltern, Schüler der 4. Klasse Volksschule kommen. Die Kinder werden an die Schüler der zehnten Schulstufe verteilt, die ihnen die Schule zeigen, und die Lehrer führen die Eltern in 20er-Gruppen durchs Haus. Daneben gibt es Vorführungen der 5. Klassen. Um 12 Uhr ist Schluss – dann treffen sich alle in der Mensa zum gemeinsamen Mittagessen. Hier wird deutlich: Unsere Schule hat ein Konzept. Wenn Eltern ihre Kinder hier anmelden, dann müssen sie das als Gesamtpaket akzeptieren. Sie können sich nicht nur die Rosinen rauspicken.

Wie sollen die Eltern sich denn einbringen?

Es gibt Tischgruppenabende – ein Treffen von sechs Schülern, die etwa ein Jahr lang immer gemeinsam lernen, sowie ihren Eltern und Lehrern. Vier solcher Abende gibt es im Jahr. Ein Elternteil lädt jeweils zu sich nach Hause ein. Da kommen oft 12 bis 20, 24 Leute zusammen. Bereits bei der Einschulung unterschreiben die Eltern, dass sie an diesen Abenden teilnehmen.

Wie sehen diese Abende aus?

Jeder Schüler stellt ein Fach vor. So wissen die Eltern, was in der Schule passiert. Sie haben ja wenig Einblick, weil ihre Kinder keine Hausübungen etc. zu Hause machen. Danach gehen die Kinder spielen. Die Erwachsenen reden dann über Themen wie Taschengeld und Computer-Konsum. Die beiden Lehrer gehen irgendwann und die Eltern sind unter sich.

Besteht da nicht die Gefahr, dass manche Eltern gar nicht auf die Idee kommen, ihr Kind auf diese Schule zu schicken, weil sie sich diese Zusammenarbeit nicht zutrauen?

Nein. Das läuft seit 40 Jahren und Göttingen ist eine kleine Stadt. Da wissen alle Bescheid. Und bei den Tischgruppenabenden laden meistens die Eltern ein, die selbst Schüler bei uns waren oder ältere Kinder bei uns haben. Die Lehrer kommen also als Gast in die Familie. Das ist eine andere Haltung als wenn sie als Beamte in die Schule einladen.

Wie wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule für den Lernerfolg eines Kindes?

Sie ist das Wichtigste überhaupt. Klar: Unterrichten ist Sache der Schule – Eltern sollen keine Referate schreiben oder dergleichen. Ihre Aufgabe ist es aber zu erziehen: Kinder pünktlich ins Bett bringen, den Fernsehkonsum einschränken und so weiter. Da braucht es Zusammenarbeit. Wir sind darauf angewiesen, dass zu Hause nicht gegen die Schule gearbeitet wird. Am besten funktioniert es, wenn alle an einem Strang ziehen.

Bekommen Lehrer für diese Abende extra bezahlt?

Nein. Unsere Lehrkräfte stehen genauso 24,5 Stunden im Klassenzimmer wie in anderen Schulen auch. Extras werden nicht bezahlt – also auch nicht die Tischgruppenabende oder das Schreiben von Entwicklungsprotokollen (statt Zeugnissen gibt es bis zur 8. Schulstufe mehrseitige Entwicklungsprotokolle für jeden Schüler, Anm.). Ich finde, Lehrer verdienen ganz gut. Dafür müssen sie auch arbeiten. Ich sage den Pädagogen übrigens schon bei der Anstellung, was wir verlangen. Wenn sie das nicht leisten wollen, sollen sie an eine andere Schule gehen.

Das klingt nicht danach als wäre so ein Konzept bei den Lehrern mehrheitsfähig.

Nein, nicht wenn man es theoretisch diskutiert. Wenn man es aber praktiziert, merkt man, was das für den Alltag bringt. Der Lehrer kann ganz anders arbeiten. Es macht zufriedener, weil er dem Kind gerechter werden kann. Der Erfolg macht glücklich. Ich erlebe das, wenn Lehrer am Ende in der 10. Klasse Resümee ziehen (die Klassenverbände lösen sich dann auf, Anm.). Viele gehen mit tränenden Augen nach Hause, weil sich eine enge Beziehung zwischen Schülern, Eltern und Lehrern entwickelt hat.

Wie erleben das die Schüler, wenn der Lehrer zu ihnen nach Hause kommt?

Es ist wie überall: Wenn man sich an einen Tisch setzt, erreicht man etwas. Wenn Schüler und Eltern zum Beispiel erzählen, dass im Englisch-Unterricht zu wenig gesprochen wird, ist das ein Punkt, wo die Lehrer sagen: Da haben die Eltern Recht. Und sie stellen den Unterricht um.

Und umgekehrt: Lernen die Eltern etwas von den Lehrern?

Ja, nicht nur von Lehrern. Wenn ein Vater erzählt, dass er jeden Abend seinem Sohn eine halbe Stunde vorliest, dann kommt vielleicht ein anderer Vater auf den Gedanken: Das ist eine gute Idee.KURIER SchüleranwaltWie stellen Sie sich eine gelungenen Kooperation zwischen Eltern, Schülern und Lehrern vor? Diskutieren Sie.

Direktor Wolfgang Vogelsaenger ist Mathematiklehrer und leitet die Georg-Christoph-Lichtenberg-
Schule in Göttingen, eine 100.000-Einwohner-Universitätsstadt im deutschen Bundesland Niedersachsen. Die Schule erhielt im Jahr 2011 den deutschen Schulpreis.
IGSSchüler zwischen der 5. und 10. Schulstufe lernen hier gemeinsam – Leistungsgruppen gibt es nicht. Die Schüler setzen sich wie der Querschnitt der Göttinger Bevölkerung zusammen: 60 Prozent der Schüler haben eine Gymnasialempfehlung. Weitaus mehr schaffen hier die Matura. In Leistungsvergleichen wie dem Zentralabitur gehört sie zu den besten im Bundesland Niedersachsen. Die IGS wird ganztags geführt. Gelernt wird in Kleingruppen. Möglich macht das die Architektur. Das Schulgebäude wurde nach pädagogischen Vorgaben geplant.