Leben/Gesellschaft

Die Geschichte von der verlorenenTochter

Alles im Leben hat seine Zeit. Nancy Lee Seymann musste 57 Jahre lang warten, bis diese – "ihre" – Zeit gekommen war.

Das ist der Tag, an dem die heute 58-jährige Amerikanerin mit Wohnsitz in Niederösterreich erfuhr, dass der Mann, den sie bisher für ihren Vater hielt, nicht ihr Vater war. Stattdessen stand sie im Februar 2013 einem 88-Jährigen aus der türkischen Stadt Kusadasi gegenüber. Vural Akinci, Vater von vier Söhnen und zwei Töchtern. Familienoberhaupt. Ehemann. Und seit 50 Jahren auf der Suche nach dem fehlenden Familienmitglied, der ältesten Tochter. Als er an diesem Februartag endlich "seine" Nancy in die Arme schloss, waren auch für sie letzte Zweifel ausgeräumt: "Ja, das ist Baba. Er hat so gut gerochen. Und als ich in seine Augen geschaut habe, war’s, als blickte ich in meine eigenen."

Hollywood-Stoff

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Heimkommen. Ankommen. Die unglaubliche Geschichte, die damit verknüpft ist und mit der sich Seymann – Winzerin und Künstlerin – an diesen Wintertagen konfrontiert sieht, klingt nach einem Hollywood-Schinken. Es ist die Geschichte vom Suchen und Finden einer Liebe, die über Kontinente hinweg hielt. Es ist die Geschichte vom Suchen und Finden von Wurzeln – die einer ruhelosen Frau erstmals in ihrem Leben das Gefühl gibt, geborgen zu sein. Und es ist nicht zuletzt eine Geschichte unerschütterlichen Glaubens. Eines Vaters, der die Hoffnung nicht aufgab, seine verlorene Tochter zu finden.

Man schreibt das Jahr 1955. Vural Akinci, türkischer Kampfpilot – Typ Erol Flynn – ist in Mississippi stationiert. Als einer von acht anderen Männern, die für eine Ausbildung in den USA ausgewählt wurden. Die Piloten bleiben zwei Jahre lang im Land. Während dieser Zeit lernt Akinci James Lee kennen. Der introvertierte Kollege ist als Offizier der US-Luftwaffe viel außer Landes. Und er ist verheiratet – mit der hübschen Mary.

Während James in Japan weilt, verlieben sich Mary und Vural ineinander und verbringen unvergessliche Tage zusammen. Man tanzt zu Big-Band-Sound, von Louis Armstrong oder Jimmy Dorsay – sie werden ein Paar. Beide träumen sie. Davon, dass sich Mary von James trennen und Vural in die Türkei folgen würde. Denn nach zwei Jahren in den USA muss er zurück in sein Land, um zehn Jahre zu dienen. Vural – ebenso verheiratet und Vater eines Sohnes – lässt sich scheiden. Einer gemeinsamen Zukunft steht – fast – nichts mehr im Wege. Am letzten Tag in den USA – vor Vurals Abflug nach Europa – lässt er sein Auto im Hafen von New York Richtung Europa verschiffen. An seiner Seite – Mary. Und das "unsichtbare" Dritte: die ungeborene Nancy, als Frucht ihrer Liebe. Mary weiß es, Vural ahnt es.

Neues Leben?

Obwohl sie einander versprechen, neu anzufangen, kommt es anders. Die Momente im Hafen sind die letzten gemeinsamen. Kaum verlässt Vural die USA, verliert Mary den Mut, in ein fremdes Land und eine fremde Kultur aufzubrechen. Sie bricht den Kontakt zu ihrem Geliebten ab. Im Sommer 1955 kommt Nancy zur Welt – in Japan, wo das Ehepaar Lee inzwischen lebt. Offiziell ist sie die Tochter von James und Mary Lee. Monate vergehen, bis der verzweifelte Vural einen Brief aus den USA erhält: darin ein Foto von Mary, in ihrem Schoß ein Baby. Auf der Rückseite dieser Text: "Our daughter Nancy Lee."

Verlorene Spuren

Obwohl Vural weiter nach ihr sucht, findet er sie nicht. Alle Spuren verlieren sich, trotz Anstrengung seiner Familie. Nach langer Krankheit – Akinci überlebt einen Flugzeugabsturz – heiratet er Lale. Mit ihr ist der heute 89-Jährige nach wie vor zusammen, hat weitere drei Söhne und eine Tochter. Nancy indes wächst im Glauben auf, James Lee sei ihr Vater. Im Rückblick wird klar, weshalb sie sich ihm auf seltsame Weise fern fühlt: "Er schien immer distanziert, er trank, ich kam nie an ihn heran." Als sie fünf ist, lässt sich ihre Mutter Mary von ihm scheiden. James trinkt. Nancy, künstlerisch begabt, malt den Vater, gefangen in einer Flasche: "Ich war außen und er konnte mich nicht hören. Das sagt doch alles."

James Lee stirbt, als Nancy 19 ist. Und auch ihre Mutter nimmt das Geheimnis um die wahre Herkunft ihrer Tochter mit ins Grab. Heute weiß Nancy: "Vieles, was in meinem Leben unerklärlich oder absurd schien, nimmt jetzt einen Platz im Puzzle ein. Ich dachte lange, dass meine Wurzeln nirgendwo seien – oder im Himmel."

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Während sie wie eine Nomadin durch die Welt geistert, auf ihrer Suche in Österreich landet und eine eigene Familie gründet, vergessen die türkischen Geschwister und ihr Vater nicht auf sie. Sie recherchieren alle, unermüdlich. Erst das Internet und ihre Homepage machen es möglich, Nancy aufzustöbern: "Aber ich reagierte nicht auf die Mails, weil ich sie nicht ernst nahm, sie als Spam einschätzte." Der letzte, verzweifelte Versuch des Bruders Serhan fruchtet schließlich. 57 Jahre nach Nancys Geburt, im Februar 2013. Er hatte lange in Österreich gelebt und schreibt auf Deutsch: "Wir wollen nichts von dir, wir wollen dir nur geben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir dich lieben."
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Nun geht alles Schlag auf Schlag, eine Woche später sitzt die verlorene Tochter mit ihrem Mann Harald und zwei ihrer Söhne im Flieger nach Kusadasi. Dort wird sie vom gesamten Clan in Empfang genommen, geküsst, geherzt, gefeiert. Nancy erinnert sich an diese verwirrenden, verrückten Tage: "Es war wie eine Wiedergeburt, so, als würde ich neu zusammengesetzt. Ich hatte einen anderen Vater und fünf neue Geschwister."

Am ersten gemeinsamen Abend trinkt die österreichisch-türkische Großfamilie österreichischen Wein und singt ein altes, türkisches Nomadenlied. Es ist Menschen gewidmet, die dem Rudel verloren gegangen sind und wieder heimfinden sollen.