Die bizarren Folgen des Selfie-Wahns
Von Julia Pfligl
Wie weit würden Sie für ein Selfie gehen? Am berühmten Trevi-Brunnen in Rom eskalierte der Kampf um die perfekte Bild-Position vergangene Woche: Zwei fotowütige Touristinnen prügelten sich solange, bis vier (!) mutige Carabinieri anrückten und den Handgreiflichkeiten ein Ende setzten. Fazit: ein gequetschter Daumen, zerrissene T-Shirts. Und erst recht kein Brunnen-Selfie.
Kurz zuvor war ein Bild aus einer anderen Feriendestination viral gegangen. Ein junger Tourist wollte am Strand vom Thailand seine Freundin fotografieren, als er merkte, dass sich neben ihm noch drei weitere Frauen vor ihren Männern in Pose warfen. Die „Insta-Boyfriends“ illustrierten humorig, welch lächerliche Ausmaße die Jagd nach dem perfekten Schnappschuss für den Foto-Dienst mittlerweile annimmt.
Professionalisierung
Der deutsche Journalist Journalist Christian beobachtet seit einigen Jahren, was die digitalen Selbstporträts mit uns machen. „Generation Selfie“ (mvg Verlag) heißt sein 2016 erschienenes Buch, heute weiß er, dass man kaum von einer Generation sprechen kann – der Hype geht durch alle Altersgruppen, zudem werden Selfies immer mehr zum Marketing-Instrument. „Was weniger wird, ist, dass Menschen ihre Selfies öffentlich auf Facebook teilen, sie verschicken sie eher in geschlossenen Kanälen. Dafür findet eine Professionalisierung statt. Als Instagrammer und 'Selfie-Profi' kann man heute richtig Erfolg haben. Am Ende muss man alles versuchen, damit die Menschen in ihrem Feed stoppen, das Bild ansehen und liken.“
Weil jeder digitale Selbstdarsteller aber nur so gut ist wie die Kulisse um ihn herum, überlegen sich die „Millennials“, also die jungen Erwachsenen von heute, zweimal, wo sie ihre freie Zeit verbringen. 40 Prozent der 18- bis 33-Jährigen, ergab die Studie eines britischen Versicherungsunternehmens, wählen ihr Urlaubsziel nach dessen Instagram-Tauglichkeit aus (unter Fachleuten hat sich dafür ein eigener Begriff etabliert: „Instagrammability“). Was wiederum Hotels und Restaurants dazu veranlasst, Selfie-Kulissen zu produzieren. In den USA etabliert sich gerade ein eigener Museumstyp: Ausstellungen mit überschaubarem Bildungseffekt, die dank Selfie-freundlicher Architektur die Massen anziehen. Das „Museum of Ice Cream“ in New York avancierte mit poppig-buntem Interieur zum Social-Media-Phänomen.
Von seiner „Instagrammability“ profitiert auch das Hotel Mama Thresl in Leogang. Man habe bei der Planung auf eine „PR-taugliche Architektur“ geachtet, verrät Hotelmanagerin Lisa Roos: Schaukeln statt Barhocker, ein Baum in der Lobby, Balkone mit Blick ins Gebirge, viel Tageslicht. Ein Foto-Paradies für die detailverliebte Selfie-Generation. „Wir selber mussten Instagram gar nicht so stark bespielen, weil die Gäste von sich aus so viel gepostet haben. Was früher Mundpropaganda war, sind heute die sozialen Medien. Wir hören ganz oft, dass die Leute über Instagram auf uns gekommen sind“, erzählt Roos. Auf die Spitze treibt es ein Londoner Restaurant: Quasi als Gruß aus der Küche serviert man im Dirty Bones ein kostenloses „Instagram-Pack“, das für perfekt beleuchtete Essensfotos sorgen soll. Der Hashtag #foodporn zählt schließlich zu den beliebtesten im Social Web.
Schön dank Filter
Dass sich die Selfie-Mania nicht nur auf das Reiseverhalten, sondern auch auf das Schönheitsideal auswirkt, beschrieben jüngst drei Mediziner im Fachjournal JAMA Facial Plastic Surgery. Immer mehr junge Menschen lassen sich demnach operieren, um so auszusehen wie auf ihren mit schmeichelnden Filtern aufgehübschten Online-Bildern. Heißt: Sie basteln sich auf dem Smartphone die beste Version ihrer selbst und gehen damit zum Beauty-Doc. Ein Trend, der sich auch in Europa bemerkbar macht, berichtet die in Wien tätige plastische Chirurgin Sabine Apfolterer. „In den sozialen Medien wird immer stärker retuschiert, auch dank immer ausgefeilterer Apps. Es ist also eine Frage der Zeit, dass auch in Österreich mehr junge Menschen nach Korrekturen fragen, um ihrem ‚Insta-Ich‘ zu entsprechen.“
Die Ärztin sieht das Phänomen der „Snapchat Dysmorphophobie“, wie Forscher die permanente, durch soziale Medien getriggerte Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen nennen, kritisch. „Ich befürchte, dass dieser Trend extreme Ausmaße annehmen kann. Wir beobachten das an der steigenden Zahl der Fitnesssüchtigen.“ Schlank sein ist nicht mehr genug: Wer das Insta-Ideal – schmale Taille, durchtrainierte Arme, sinnliche Rundungen an Po und Hüfte – trotz Sport nicht erreicht, hilft mit Fettabsaugung bzw. Eigenfett-Injektion nach, zwei der häufigsten Eingriffe in Praxis.
Alles Narzissten?
Die Selfie-Flut bedeute nicht, dass Jugendliche zwingend narzisstischer werden, eher im Gegenteil: „Soziale Medien fördern sowohl Gefühle von Verbundenheit und Freiheit des Ausdrucks als auch von Isolation und Sorgen ums Urteil anderer Menschen“, sagt die Kognitionswissenschaftlerin Dayana Hristova, die an der Uni Wien mit zwei Kolleginnen zur „Selbstoptimierung im digitalen Zeitalter“ forscht. „Es gibt viele Beispiele von Menschen, die durch Plattformen wie Instagram Ermutigung für soziale oder Kunstprojekte finden und eine Community aufbauen.“
Der Wunsch nach sozialer Anerkennung war lange vor dem Siegeszug der sozialen Medien essenziell, mit Likes und Kommentaren habe sich lediglich die Währung geändert. „Selfies sind ein Medium geworden, das wir so schnell nicht loswerden“, fasst Christian Cohrs zusammen. Je stärker die Verbreitung, desto kritischer würden sich die Menschen damit auseinandersetzen – reichweitenstarke Lifestyle-Blogger, die neuerdings gerne die Inszenierung ihrer eigenen Bilder aufdecken, sprechen für diese Tendenz. Und Cohrs ortet mehr Vernunft auf der Jagd nach dem Super-Selfie: „Vor ein paar Jahren sind die Leute fast im Wochentakt von Klippen gefallen oder wurden von Zügen überfahren. Ich habe das Gefühl, dass die ganz großen Dummheiten seltener werden.“