Leben/Gesellschaft

Wie Gegenstände von NS-Verfolgten ins Museum kamen

Diese Orgel hat drei Leben – davon ist Harold Chipman überzeugt. Sie stand einst in der Döblinger Villa seines Großvaters Willibald Duschnitz (1884-1976). Sie überlebte die Nationalsozialisten, als der Filzfabrikant nach Brasilien floh. Und sie fand einen Platz in einer niederösterreichischen Kirche, als er sie in den 1950er-Jahren verkaufte. Jetzt steht sie im Technischen Museum. Und dort befinden sich noch viele weitere Gegenstände, die einst Vertriebenen und Verfolgten gehört haben, etwa eine Schreibmaschine, eine Briefwaage, ein Durchlauferhitzer oder ein Radio – Dinge des täglichen Lebens, die den Juden von den Nationalsozialisten abgenommen wurden, erklärt Direktorin Gabriele Zuna-Kratky. Auch Fahrräder und Autos. All diese Dinge sind nun in einer dauerhaften Ausstellung zu sehen. Nicht nur: Sie sollen an die Erben der Eigentümer zurückgegeben werden.

Raubgut wurde identifiziert

Seit 1998 betreibt das Technische Museum Provenienzforschung (Geschichte der Herkunft, Anm.): 80.000 Objekte wurden auf ihre Herkunft hin untersucht – bei zirka hundert handelt es sich um Raubgut. Davon wurden bisher 16 Restitutionsfälle ermittelt, wovon die Hälfte abgeschlossen ist, sagt Zuna-Kratky. In einigen Fällen arbeite man nach wie vor daran, mögliche Erben zu finden, da einige von den Nazis ermordeten Besitzer keine Kinder hinterließen. Ein schwieriges Unterfangen, weiß Christian Klösch, Historiker und Provenienzforscher: "Nur wenige melden sich von selbst, viele würden ja nie vermuten, dass hier Gegenstände ihrer Verwandten sind."

Großmutters Auto

Alle Inhalte anzeigen
Durch Zufall fand Silvia Gluckselig im Internet heraus, dass der Wagen ihrer jüdischen Großmutter Rosa Glückselig, ein Fiat 522 C, in Wien steht. Er wurde am 16. März 1938 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, an die Bundesgärten Schönbrunn verkauft und kam 1952 als Schenkung ins Technische Museum.

Die einstige Besitzerin Rosa Glückselig war mit ihrem Mann Moritz 1939 zuerst nach Bolivien, dann nach Buenos Aires geflohen. Zuvor hatten sie ein Delikatessengeschäft in Ottakring geführt. Über die Geschehnisse in Wien und den Krieg wurde nie gesprochen, erzählt ihre Enkelin Silvia, die ebenfalls in Buenos Aires aufwuchs. 2008 begann sie nachzuforschen, um mehr über ihre Familiengeschichte herauszufinden. Wenn sie heute vor dem Auto steht, fühlt sie sich ihren Großeltern verbunden. "Ich kann mir gut vorstellen, wie die beiden in dem Auto gesessen sind. Aber ich bin vor allem froh, dass ich meinen Kindern etwas über unsere Familie erzählen kann."

Den Fiat 522 hat das Technische Museum 2007 an die Erben restituiert und dann wieder gekauft, da er ein bedeutendes zeithistorisches Objekt ist. Der Fall wurde auch Anlass für ein Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse in einer Datenbank abrufbar sind (siehe rechts).

Geschichten von Menschen, denen Flucht nicht gelang

Während Silvia Gluckseligs Vorfahren die Flucht gelang, zeigt die Ausstellung auch Geschichten von Menschen, die es nicht geschafft haben. Der Technikhistoriker Hugo Theodor Horwitz (1882–1942) und seine Frau starben nach ihrer Deportation in Minsk. Ein Kasten mit Manuskripten, Fotos und technischer Fachliteratur blieb in der Wohnung zurück. 1942 informierte eine Farbenfabrik das Technische Museum über den Fund und übergab ihn. Erst 65 Jahre später konnte Anselm Barnet, Sohn von Horwitz, mithilfe der Israelitischen Kultusgemeinde in Kanada ausfindig gemacht werden. Bis auf einige Familiendokumente überließ er den Nachlass dem Museum in Wien.

Überwältigte Erben

Als unbedenklicher Kauf stellte sich die Orgel von Willibald Duschnitz heraus, der sie nach der Rückgabe seiner Villa abmontieren ließ und sie 1955 an die Pfarre Leopoldsdorf verkaufte. 1994 erwarb sie das Technische Museum. Zwanzig Jahre später konnte die Forscherin Bettina Schöngut die Orgel als Duschnitz-Eigentum identifizieren und die ganze Geschichte des Objekts rekonstruieren. Und so erfuhr auch Harold Chipman davon.

Alle Inhalte anzeigen
Den Moment beschreibt er heute als überwältigend: "Viele haben geglaubt, dass mein Großvater die Orgel nach Brasilien mitgenommen hat, ich war mir immer sicher, dass das nicht stimmt." Viele Jahre hat der Professor für kognitive Psychologie und Linguistik nach Hinweisen gesucht, Bibliotheken durchforstet, "alles ohne Google", sagt der 70-Jährige und lacht. Auch von seinem Großvater hatte er zu dessen Lebzeiten kaum Informationen bekommen. Chipman, der in England und der Schweiz aufwuchs, sah Duschnitz nur in den Ferien. "Er hat sich in Brasilien ein neues Leben aufgebaut, die Brücken nach Europa und Wien aber nicht abgebrochen." Auch seiner ehemaligen Firma stand er, zwar entfernt, als Berater zur Verfügung. Nur über den Krieg und seine Verfolgungsgeschichte wollte Willibald Duschnitz nicht viel erzählen. Kurz vor seinem Tod führte er mit Enkel Harold ein Gespräch, bei dem er ihn darauf hinwies, er könnte doch etwas nachforschen.

Sein Großvater wäre heute glücklich, wenn er sehen könnte, dass die Orgel im Museum steht, meint Harold Chipman. Glücklich macht ihn als Enkel vor allem die Spurensuche nach seinen Wurzeln. "Manche sagen, ich lebe in der Vergangenheit – das stimmt aber nicht. Ich fühle mich meinem Großvater erst jetzt richtig nahe."

Alle Inhalte anzeigen

Kleine Schau mit großer Geschichte

Unter dem Titel "Inventarnummer 1938" zeigt das Technische Museum die erste Dauerausstellung im deutschsprachigen Raum zur Provenienzforschung: Von der Praxis der NS-Raubzüge, den Lebensgeschichten der Beraubten bis hin zur Suche nach den heute in aller Welt verstreut lebenden Erben.

Autos mit Geschichte

Nach dem Fall "Fiat 522" startete das TMW ein Projekt, dessen Ergebnisse in einer Datenbank zu sehen sind. Dort sind derzeit ca. 75 % der Automobilbesitzer und ca. 45 % der Motorradbesitzer in Österreich vor 1938 namentlich erfasst. Infos unter: www.technischesmuseum.at