Leben/Gesellschaft

Wie Flucht auf die Seele wirkt

Man möchte meinen, nachts ist es in den Notschlafstellen ruhig, weil die von ihrer anstrengenden Reise erschöpften Flüchtlinge tief und fest schlafen. Doch manchen gelingt das nicht. Zu viele Bilder von Angst, Gewalt und Terror kreisen in ihren Köpfen, rauben ihnen die ersehnte Ruhe. "Dann wollen sie reden. Sie erzählen einem ihre ganze Geschichte, von ihrer Heimat, dem Krieg, ihren Erlebnissen, der Flucht. Das geht oft die ganze Nacht lang", erzählt ein Helfer.

Solche Erfahrungen gehen an niemandem spurlos vorbei. Manche können sie gut selbst verarbeiten, andere tun das, indem sie darüber sprechen oder ihre Erlebnisse aufschreiben. "Etwa ein Drittel der Betroffenen entwickelt aus der Traumatisierung aber die eine oder andere Form einer psychischen Störung", erklärt der Psychiater Univ.-Prof. Thomas Stompe von der "Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte psychische Störungen" an der MedUni Wien. "Der Betroffene durchlebt die Traumata dann immer wieder – in Form von Gedanken oder auch von visuellen Erinnerungen."

Dauernde Leere

Wer nicht schlafen kann, wer ständig unter wiederkehrenden Schreckensbildern leidet, der kann sich nicht darauf konzentrieren, eine neue Sprache zu lernen, sich ein neues Leben aufzubauen oder sich zu integrieren. "Wenn so eine Störung nicht rechtzeitig behandelt wird, kann sie chronisch werden. Damit lebt der Betroffene mit einem andauernden Gefühl der Leere und Bedrohtheit und ist folglich immer schwerer zu behandeln", warnt Stompe, der die Verantwortlichen dazu ermahnt, jetzt rasch Konzepte zu entwickeln. Derzeit sei noch die Erstversorgung der Flüchtlinge im Fokus, doch über kurz oder lang werde Trauma-Hilfe für jene nötig sein, die wirklich bleiben.

Die Psychiaterin Carryn Danzinger vom Psychosozialen Zentrum ESRA betont, dass sich traumatische Störungen in anderen Kulturen oft anders äußern. "Die Betroffenen kommen oft schon mit einem Stapel von Arztbefunden ohne eindeutige Diagnose zu uns – und die eigentliche Ursache ist eine traumatische Belastungsstörung." Diese äußere sich häufig in Form von diffusen, schwer definierbaren Schmerzen, starker Migräne oder auch Bauchkrämpfen.

Geister sehen

Univ.-Prof. Thomas Wenzel, Psychiater an der MedUni Wien erklärt dazu: "Es gibt kulturabhängige Reaktionen auf Belastungssituationen – so, wie man bei uns früher in Ohnmacht gefallen ist, wenn einem etwas peinlich war. Ehemalige Kindersoldaten aus Uganda haben dann etwa oft Geister gesehen und es war ihnen unangenehm, darüber zu sprechen."

Die "transkulturelle Kompetenz" sei in der Behandlung von Flüchtlingen daher besonders wichtig. "Man muss Menschen auf verschiedenen Ebenen ansprechen können, um sie zu erreichen. In arabischen Ländern ist es etwa unüblich, dass ein Mann einer Frau die Hand schüttelt. Wenn man das nicht weiß, kann dadurch unbewusst schon eine Situation geschaffen werden, die den Zugang zum Patienten erschwert."

Um die ohnehin sehr mangelhaften Ressourcen in der psychosozialen Betreuung zu entlasten, sollen unter den Flüchtlingen Ärzte und Fachpersonal aus dem Bereich für die Trauma-Hilfe gewonnen werden. Nicht zuletzt brauchen aber auch die Helfer oft eine Stütze – denn die vielen Erzählungen von schrecklichen Erlebnissen müssen auch vom Zuhörer verarbeitet werden.

Tipp: Wiener Herbsttagung für Transkulturelle Psychiatrie am 14. Nov. im Hörsaalzentrum, AKH Wien. Infos, Programm und Anmeldung unter www.ce-management.com