Leben/Gesellschaft

Das Sterben beginnt mit dem Leben

In Mexiko sollte man jetzt sein. Nicht wegen angenehmer Temperaturen und Sonne, sondern wegen des lebensbejahenden Allerheiligenkults. Der dia de la muertos – der Tag der Toten – wird am 1. und 2. November traditionell als großes, buntes, an Jahrmärkte erinnerndes Fest mit Musik, Tanz und Totenköpfen aus Zuckerguss gefeiert. Und zwar auf dem Friedhof. Wer mit unserer gedämpften, besinnlichen, mitteleuropäischen Allerheiligenkultur aufgewachsen ist, mag das auf den ersten Blick befremdlich finden. Doch bei näherer Betrachtung steckt viel Sinnvolles in diesen alten, noch an die mexikanischen Urvölker erinnernden Bräuchen. Sie holen nämlich Tod und Sterben in die Mitte des Lebens.

Mit der Geburt beginnt das Sterben

Alle Inhalte anzeigen
So eine bewusste Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit – zumindest in der bekannten körperlichen Form – ist etwas, das uns modernen Menschen ebenfalls ganz gut tun könnte. Von Anfang an. Denn eines ist klar: Diesem Schicksal können wir nicht entgehen. Gestorben wird immer und überall. "Es ist das wohl existenziellste Thema des Menschen überhaupt", sagt der bekannte deutsche Sterbeforscher Bernard Jakoby, der derzeit auf Vortragsreise durch Österreich tourt. Umso erstaunlicher sei, dass Sterben und Tod in unserer modernen Welt derart ausgeblendet werden. Ja, richtiggehend tabuisiert. Damit beschäftigt man sich bevorzugt erst, wenn es sich nicht mehr verdrängen lässt. "Wir leben, als ob der Tod nur andere anginge." Da könnten wir noch viel von den Mexikanern lernen: Sie sehen den Tod nicht als Schlusspunkt, sondern in einen natürlichen Prozess und in einen Kreislauf eingebettet. Diese Einstellung gab es übrigens bereits vor der Eroberung durch Kolumbus und die Europäer im 15. Jahrhundert. Damals "starb man idealerweise nicht jammernd, sondern frohen Herzens", formuliert es der Kulturwissenschaftler Klaus Boll.

Alles Einstellungssache

Alle Inhalte anzeigen
Auch für Bernard Jakoby ist die Einstellung der Schlüssel zu einem bewussten Umgang mit Leben und Tod. Für ihn heißt das: "Das Leben annehmen, wie es ist und sich dabei bewusst sein, dass man sterblich ist." Die Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben könne dazu führen, den Tod als ein ebenso natürliches Geschehen zu akzeptieren, wie die Geburt. Dabei hilft zum Beispiel, sein Leben beizeiten aufzuräumen. "Machen wir schon jetzt einen objektiven Blick darauf und bereinigen Verdrängtes", rät er. Denn gerade am Lebensende kommen häufig die nicht verarbeiteten Themen an die Oberfläche. "Der Tag kommt, an dem wir nicht mehr vor uns selbst davonlaufen können." Ähnlich erlebte das die Soziologin Juliane Uhl in Gesprächen mit Sterbenden, Hospizmitarbeitern und Bestattern. Nach ihrem Studium hat sie begonnen, in einem Krematorium zu arbeiten – und sich damit dem Leben vom Tod her zu nähern. "Ich bin seither viel gelassener und habe weniger Angst. Mein Leben ist wertvoller dadurch geworden." In ihrem aktuellen Buch "Drei Liter Tod" fragt sie, wann Sterben eigentlich beginnt. Ihre Antwort: "Das ist dann, wenn klar ist, dass keine Flucht vor dem Tod mehr möglich ist – beginnt es daher nicht in der Mitte unser aller Leben?"

Den Tod heranlassen

Warum man sich dennoch so ungern damit beschäftigt, hat viel mit dem Menschsein an sich zu tun, sagen Experten. Unangenehmes wird gerne weggeschoben. Beim abstrakt gewordenen Thema Tod öffnen oft erst persönliche Berührungspunkte Raum für essenzielle Fragen. Für viele beginnt die Auseinandersetzung mit einem Todesfall in ihrem Umfeld. Uhl: "Ich glaube aber, dass es sinnvoll ist, sich in einer normalen Lebensphase damit auseinanderzusetzen. So hat man im entscheidenden Moment Kapazitäten frei,kann besser damit umgehen."

Darauf zielt auch die derzeitige Kampagne der "Bestattung Wien" unter dem Motto "Abschied leben" ab. "Wir erleben es sehr oft, dass viele Hinterbliebene oft ratlos bei einem Sterbefall dastehen", erklärt Geschäftsführer Jürgen Sild. Sujets im öffentlichen Raum sollen das Bewusstsein für den Tod als Teil des Lebens steigern. "Bemalt meinen Sarg bunt und kommt ja nicht in Schwarz", wünscht sich etwa eine der Protagonistinnen für ihr Begräbnis.

Wissen, das tröstlich sein kann

Alle Inhalte anzeigen
Bei der Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit stellt man sich vielleicht auch der Angst, die die meisten Menschen in Zusammenhang mit dem Tod bewegt. Viele beschäftigen Fragen, was beim Sterben mit Körper und Geist passiert, weiß Sterbeforscher Jakoby. "Wir könnten uns da manches leichter machen. Vieles an Panik und Angst wäre gar nicht nötig. Ich versuche immer darauf aufmerksam zu machen, dass wir heute ein enormes Wissen haben, etwa aus Nahtoderfahrungen. Dieses Wissen kann auch sehr tröstlich sein."

Viele Ängste erweisen sich bei näherer Betrachtung als irreal. "Angst ist so etwas wie ein Durchgangspunkt. Aber Sterben ist auch ein Kontrollverlust, das macht vielen zu schaffen." Im Sterben werde man zutiefst mit sich selbst konfrontiert. Was er von Sterbenden gelernt hat: "Wenn aller Kampf aufhört, breitet sich Liebe und Frieden aus."

Auch die Sprache hat Anteil am Umgang mit dem Tod, ist Soziologin Uhl überzeugt. Sich bewusst mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen, sei etwas Lebensbejahendes. Überhaupt, wenn die Worte dafür klar sind, findet sie. "Meistens wird das Thema in einer fachlichen Sprache abgehandelt, etwa medizinisch oder juristisch. Oder überhaupt in einer pietätsverkleideten. Daraus resultiert, dass wir glauben, gar nicht erst darüber reden zu dürfen."

Vom Umgang mit dem Tod

Der Umgang mit dem Tod und den Toten sagt im Übrigen auch einiges über die Lebenden – und den Umgang miteinander – aus. Juliane Uhl ist überzeugt: "Wie wir die Toten bewerten, bestimmt die Art, wie wir mit ihnen umgehen. Und daran erkennen wir, wie wir zu Lebzeiten miteinander umgehen und welchen Wert wir einander beimessen." Schon allein durch diese Erkenntnisse lohne es sich, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. In Mexiko besagt der Volksglaube, dass die Verstorbenen zu Allerheiligen ihre Hinterbliebenen besuchen. Diese wiederum entzünden viele Kerzen, um ihnen im Dunkeln den Weg zu weisen und halten Essen und Getränke bereit.

Alle Inhalte anzeigen
Die Atmosphäre ist dort von Fröhlichkeit und Lebendigkeit geprägt. Als ob die Beziehungen mit den Menschen, die einem wichtig sind, so gesehen über den Tod hinaus bestehen bleiben. "Das Leben besteht in jeder seiner Phasen aus Anerkennung und Beziehungen", sagt Juliane Uhl.

Aber was kann jeder einzelne konkret von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit fürs Leben – das ohne Zweifel im Hier und Jetzt gelebt werden soll – lernen? "Wir sollten das Leben so leben, wie wir es am Ende gern gehabt hätten", sagt Uhl. Bernard Jakoby ergänzt: "Der Sinn des Lebens ist es, seelisch und geistig zu wachsen und lieben zu lernen. Das ist die schwierigste Aufgabe. Und damit sollten wir nicht bis zum Sterben warten."