Das Sterben beginnt mit dem Leben
Von Ingrid Teufl
In Mexiko sollte man jetzt sein. Nicht wegen angenehmer Temperaturen und Sonne, sondern wegen des lebensbejahenden Allerheiligenkults. Der dia de la muertos – der Tag der Toten – wird am 1. und 2. November traditionell als großes, buntes, an Jahrmärkte erinnerndes Fest mit Musik, Tanz und Totenköpfen aus Zuckerguss gefeiert. Und zwar auf dem Friedhof. Wer mit unserer gedämpften, besinnlichen, mitteleuropäischen Allerheiligenkultur aufgewachsen ist, mag das auf den ersten Blick befremdlich finden. Doch bei näherer Betrachtung steckt viel Sinnvolles in diesen alten, noch an die mexikanischen Urvölker erinnernden Bräuchen. Sie holen nämlich Tod und Sterben in die Mitte des Lebens.
Mit der Geburt beginnt das Sterben
Alles Einstellungssache
Den Tod heranlassen
Warum man sich dennoch so ungern damit beschäftigt, hat viel mit dem Menschsein an sich zu tun, sagen Experten. Unangenehmes wird gerne weggeschoben. Beim abstrakt gewordenen Thema Tod öffnen oft erst persönliche Berührungspunkte Raum für essenzielle Fragen. Für viele beginnt die Auseinandersetzung mit einem Todesfall in ihrem Umfeld. Uhl: "Ich glaube aber, dass es sinnvoll ist, sich in einer normalen Lebensphase damit auseinanderzusetzen. So hat man im entscheidenden Moment Kapazitäten frei,kann besser damit umgehen."
Darauf zielt auch die derzeitige Kampagne der "Bestattung Wien" unter dem Motto "Abschied leben" ab. "Wir erleben es sehr oft, dass viele Hinterbliebene oft ratlos bei einem Sterbefall dastehen", erklärt Geschäftsführer Jürgen Sild. Sujets im öffentlichen Raum sollen das Bewusstsein für den Tod als Teil des Lebens steigern. "Bemalt meinen Sarg bunt und kommt ja nicht in Schwarz", wünscht sich etwa eine der Protagonistinnen für ihr Begräbnis.
Wissen, das tröstlich sein kann
Viele Ängste erweisen sich bei näherer Betrachtung als irreal. "Angst ist so etwas wie ein Durchgangspunkt. Aber Sterben ist auch ein Kontrollverlust, das macht vielen zu schaffen." Im Sterben werde man zutiefst mit sich selbst konfrontiert. Was er von Sterbenden gelernt hat: "Wenn aller Kampf aufhört, breitet sich Liebe und Frieden aus."
Auch die Sprache hat Anteil am Umgang mit dem Tod, ist Soziologin Uhl überzeugt. Sich bewusst mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen, sei etwas Lebensbejahendes. Überhaupt, wenn die Worte dafür klar sind, findet sie. "Meistens wird das Thema in einer fachlichen Sprache abgehandelt, etwa medizinisch oder juristisch. Oder überhaupt in einer pietätsverkleideten. Daraus resultiert, dass wir glauben, gar nicht erst darüber reden zu dürfen."
Vom Umgang mit dem Tod
Der Umgang mit dem Tod und den Toten sagt im Übrigen auch einiges über die Lebenden – und den Umgang miteinander – aus. Juliane Uhl ist überzeugt: "Wie wir die Toten bewerten, bestimmt die Art, wie wir mit ihnen umgehen. Und daran erkennen wir, wie wir zu Lebzeiten miteinander umgehen und welchen Wert wir einander beimessen." Schon allein durch diese Erkenntnisse lohne es sich, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. In Mexiko besagt der Volksglaube, dass die Verstorbenen zu Allerheiligen ihre Hinterbliebenen besuchen. Diese wiederum entzünden viele Kerzen, um ihnen im Dunkeln den Weg zu weisen und halten Essen und Getränke bereit.
Aber was kann jeder einzelne konkret von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit fürs Leben – das ohne Zweifel im Hier und Jetzt gelebt werden soll – lernen? "Wir sollten das Leben so leben, wie wir es am Ende gern gehabt hätten", sagt Uhl. Bernard Jakoby ergänzt: "Der Sinn des Lebens ist es, seelisch und geistig zu wachsen und lieben zu lernen. Das ist die schwierigste Aufgabe. Und damit sollten wir nicht bis zum Sterben warten."