Zum 20. Brunetti: Donna Leon im Interview
Von Birgit Braunrath
Der Fotograf grüßt höflich: "Es ist mir eine Ehre." Donna Leon erwidert mit gespielter Entrüstung: "Was soll denn da eine Ehre sein? Eine Freude meinetwegen." Beim Diogenes Verlag in Zürich mischt sie sich unter die Mitarbeiterinnen und signiert Bücher. Sympathisch und allürenfrei ist die Frau, deren Brunetti-Kriminalfälle bereits in 34 Sprachen erscheinen. Nur nicht auf Italienisch – damit sie in ihrer Wahlheimat Venedig incognito bleibt.
KURIER: "Reiches Erbe", Brunettis 20. Fall, ist in einigen Passagen überraschend zart und feinfühlig geschrieben. Werden Sie im Alter milde?
Donna Leon: Nein, absolut nicht. Das ist nur ein Täuschungsmanöver: Die Menschen sollen glauben, ich werde in meinen alten Tagen weich (schmunzelt) . Aber warten Sie auf den Nächsten!
Band 21 handelt vom Grauen der Fleischproduktion ...
Ja, da wird es gnadenlos. Und der 22. Fall wird noch härter (ihre Augen blitzen bedrohlich und gleichzeitig vergnügt) .
In "Reiches Erbe", das jetzt auf Deutsch erscheint, geht es um eine Testamentsfälschung und die Folgen. Ist Ihr eigenes Testament in Sicherheit?
(Lächelt) Sicher und in guten Händen.
Spielen eigene Themen in Ihren Büchern eine Rolle?
Meine Themen nicht. Aber oft erzählen mir Freunde etwas, das ich ausbaue. Ich bin ständig auf der Suche nach Geschichten, in denen sich jemand unehrlich verhält. Oder unehrenhaft.
Ist da ein Unterschied?
Ja, sicher. – Wie sind Sie nach Zürich gekommen?
Mit dem Zug.
Gut (sie formt aus drei Fingern der rechten Hand eine Pistole und hält sie der Interviewerin an die Schläfe) . Wenn ich Sie auf dem Bahnsteig stoppe, "Geld her!" rufe und mit Ihrem Geld flüchte, ist das unehrlich, Diebstahl. Unehrenhaft ist es nicht. Wenn wir aber das Interview machen, gut miteinander auskommen und dann sage ich: "Geld her!" – das wäre unehrenhaft, eine Art von Betrug, wir hätten ja bereits eine Beziehung aufgebaut.
Wenn Ihnen Freunde solche Geschichten im Vertrauen erzählen, ist es nicht unehrenhaft, diese zu verwenden?
(Schmunzelt ) Dafür hab ich eigene Regeln entwickelt: Verrät mir jemand eine spannende Geschichte, die ich nicht weitererzählen darf, verwende ich sie nur, wenn ich sie so verändern kann, dass keine Spur zu dem Menschen führt, der sie mir erzählt hat.
Sie haben einmal gesagt: "In Italien kann man nur dem Klatsch trauen. Niemand traut der Regierung, niemand traut den Medien." Haben Sie das Gefühl, dass sich daran seit Mario Montis Amtsantritt etwas ändert?
Ich habe noch keinen Unterschied bemerkt (sie überlegt) ... vielleicht ganz am Anfang ... Monti ist im Gegensatz zu Berlusconi ein achtbarer Mann. Aber wie kann er allein einen Wandel herbeiführen? In der Demokratie braucht er die Stimmen der anderen.
Kein Funke Hoffnung?
Die Italiener verstehen die Demokratie nicht. Selbst ein angesehener Mann wie Antonio Di Pietro wollte seinem Sohn ein hohes Amt in der Bezirksverwaltung zuschanzen. Niemand in Italien kapiert, dass Macht nicht erblich ist.
Dennoch sagen Sie, es sei ein Privileg, in Italien zu leben ...
In Venedig!
Dabei hassen Sie das Karnevalstreiben. Was versöhnt Sie mit der Stadt?
Der ständige zwischenmenschliche Kontakt. Es gibt keine Autos, alle gehen zu Fuß, dadurch trifft man Menschen, denen man sonst nie begegnen würde. Ich glaube, das ist sehr gesund.
Als Sie vor 10 Jahren sagten, in Venedig wisse niemand, wie berühmt Sie sind, war das noch irgendwie glaubhaft. Aber mittlerweile?
Es ist immer noch so. Die Menschen in Venedig haben keine Ahnung, wer ich bin. Nur einige Nachbarn wissen, dass ich schreibe, ahnen aber nicht das Ausmaß des Kults. Und das ist gut so ...
... wenn auch unglaublich. Einmal googeln und jeder wüsste Bescheid.
Aber es interessiert sie nicht. Italiener lesen nicht. Als Autorin bin ich einfach nicht auf ihrem Radar. Wenn Paris Hilton nach Venedig zieht – das wüsste jeder! Aber ich bin kein Glamourstar. Schriftsteller sind auf andere Weise berühmt, und bei einem anderen Publikum.
Haben Sie einen Lieblings-Brunetti?
Für eine Lesung Ende Mai in Melk, wurde ich gebeten, aus jenen Büchern zu lesen, in denen es um die Oper geht , aus "Acqua alta" und "Venezianisches Finale", meinem allerersten Fall. Ich habe das Buch nach 19 Jahren aus dem Regal geholt und staune, wie gut es mir gelungen ist.
Sie klopfen sich auf die Schulter für Ihren Erstling?
Ja, das tu’ ich (lacht) . Es ist ein spannendes Kriminalrätsel.
Sie sagen, dass Sie beim Schreiben nie wissen, wie ein Fall ausgehen wird ...
Ich denke nicht darüber nach, das kommt von selbst.
Was gibt Ihnen diese Sicherheit?
Ich verlasse mich darauf, dass ich als Studentin Hunderte solcher Werke gelesen habe. Es ist wie mit einer Haydn-Sinfonie: Wenn Sie 103 gehört haben und die 104. erklingt, wird Sie nichts überraschen, Sie wissen blind, wohin Sie welcher Ton führt.
Sie erwähnen Haydn? Ich hätte mit Händel gerechnet. Sie werden als "größter lebender Händel-Fan" bezeichnet und reisen um die halbe Welt, um Händel-Opern zu sehen. Wer ist im Moment Ihre Lieblingssängerin?
Meine Lieblingssängerin ... im Moment ... SIND ... (sie grinst wie die Moderatorin einer Castingshow kurz vor der Entscheidung) ... Cecilia Bartoli – sie erlebe ich kommende Woche bei den Pfingstfestspielen in Salzburg als Cleopatra in "Giulio Cesare" –, ... Joyce DiDonato und ... Marie Nicole Lemieux!
In Ihrem CD-Regal soll neben Händel auch ein wenig Bach stehen. Zählen Sie nicht zu jenen Fans, die sagen: "Entweder Händel oder Bach!"?
Nein. Aber Bach erschließt sich für mich schwerer, weil Deutsch nicht meine Muttersprache ist. Ich würde auch niemals sagen: "Entweder Händel oder die Beatles!"
Sie würden aber auch niemals die Beatles hören ...
Stimmt. Dennoch kann ich verstehen, dass Menschen die Beatles lieben. Ich liebe Tina Turner, obwohl ich sie noch nie singen gehört habe.
Warum lieben Sie sie?
Sie hat viel Schlimmes erlebt und ist – soweit ich weiß – ein guter Mensch geblieben. Ich habe ihre Biografie gelesen. Und ich habe ein Interview mit ihr auf YouTube gesehen, bei diesem Amerikaner, Larry King. Sie ist über 70 und sieht hinreißend aus. Das ist Gottes Wiedergutmachung an den schwarzen Frauen: Sie kriegen keine Falten und bleiben schön bis ins hohe Alter. Dafür müssen sie damit leben, dass sie in Amerika doppelt diskriminiert werden, als Farbige und als Frau. Ein schlechter Deal ...
Sie sind Ihrer Heimat USA gegenüber sehr kritisch.
Ja, es hat sich dort viel verändert. Die Menschen sind angstgetrieben, fremdenfeindlich und dumm.
"Nicht ich habe mein Land verlassen, mein Land hat mich verlassen", haben Sie einmal gesagt ...
Was für ein kluger Gedanke! Den muss ich mir merken.
Aber er klingt fast bitter.
Nein, ich habe keine negativen Gefühle, was Amerika betrifft. Das Problem ist nur, dass dort alle verrückt sind: Mehr als 50 Prozent glauben an die Schöpfungsgeschichte! Nach allem, was uns die Wissenschaft an Beweisen für die Evolution vorgelegt hat, glauben sie, dass die Erde vor 7000 Jahren entstanden ist und ein gütiger Gott über alles wacht. Mit solchen Menschen kann man nicht über die Klimaerwärmung diskutieren. Aber das ist derzeit unser größtes Problem!
Glauben Sie selbst an Gott?
(Sie runzelt abweisend die Stirn) Die Frage, ob Gott existiert, ist irrelevant. Es ist die uninteressanteste, unwichtigste Frage, die je ein Mensch gestellt hat. Keiner kann sie beantworten.
Was Sie ebenso an den Amerikanern kritisieren, ist, dass sie sich "überall einmischen".
In alles! Einfach in alles! Es ist schrecklich.
Aber sie haben doch immer einen guten Grund.
Sagen wir, sie haben immer einen Grund. Bush erklärte nicht: "Wir gehen in den Irak, weil wir das Öl wollen." Er sagte: "Dort ist ein Diktator, der sein Volk unterdrückt." – Na und? Ist das der einzige? Diese Scheinheiligkeit macht mich verrückt. Amerikaner haben für alles eine Ausrede.
2008 haben Sie für Barack Obama gestimmt ...
... und ich werde ihn im November wieder wählen.
Beobachten Sie den Wahlkampf?
Es ist quälend. Man hört so viel Unsinn. Amerikanische Politik ist sehr einfach gestrickt. Nehmen wir nur den Slogan "Yes, we can!" Der heißt doch nichts. Stellen Sie sich vor, jemand kommt auf Sie zu (sie rückt ganz nah heran) und ruft: "Give me 1000 Dollars, because I can!" Sie würden zumindest fragen: "WAS können Sie? Die Waschmaschine reparieren? Abendessen machen? Eine Bank ausrauben?"
Sie wählen Mister "Yes, we can" wegen ...?
Wegen der Alternative! Die Republikaner sind schlechte Menschen. Obama ist ein intelligenter Mann mit guten Absichten. Ich fand seine Pläne zur Gesundheitsreform gut. Und ob ein anderer in der Finanzkrise besser agiert hätte, kann heute niemand sagen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob es klug war, die Banken zu retten. Ist das die Aufgabe eines Demokraten?
Apropos Demokraten. Von Ihnen stammt die Aussage: "Wir Amerikaner sind Demokraten. Ich lege Wert darauf, dass ich jedem gleich begegne, egal, ob es Cecilia Bartoli oder der Müllmann ist." Können Sie für jeden Menschen denselben Respekt aufbringen?
Nein, denn Respekt bedeutet für mich Bewunderung. Aber ich behandle alle mit der gleichen Höflichkeit.
In Saudi-Arabien ist Ihnen Ihre Höflichkeit beinahe abhanden gekommen. Sie sagen, das Jahr, in dem Sie dort unterrichtet haben, war das schlimmste Ihres Lebens.
(Die Frau mit der ruhigen Stimme beginnt ansatzlos zu kreischen und fällt dabei fast vom Sessel, der schrille Ton verebbt nach ca. 10 Sekunden) Das ist der schlimmste Ort auf Erden! Ich hasse die Saudis immer noch! Ich hatte vier wunderbare Jahre im Iran, ich liebe Ägypten. Aber in Saudi-Arabien haben mich die Männer so schlecht behandelt, dass ich zum ersten Mal verstanden habe, warum Menschen durchdrehen. Ich habe gekündigt, sonst wäre ich dort gewalttätig geworden.
Sie warnen vor dem Ruhm: "Berühmte Menschen glauben plötzlich, was man ihnen sagt: dass sie besser sind." – Welche Gegenmaßnahmen haben Sie selbst getroffen?
(Sie lächelt milde) Keine. Ich war doch schon 50, als es anfing. Jetzt werde ich 70. Da glaubt niemand mehr die Ruhmesgeschichten, die über einen erzählt werden.
Zur Person: Donna Leon
Lebenslauf: Geboren am 28. September 1942 in New Jersey, ging mit 23 zum Studium nach Italien, lebt seither im Ausland, war Reiseleiterin in Rom, Werbetexterin in London, Lehrerin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Lebt seit 1981 in Venedig.
Persönliches: Sie liebt Barock- und Klassik-Musik, für eine Händel-Oper reist sie bis New York. Sie liebt Flieder, hat bei ihrem Haus in den Bergen 50 Sträucher eigenhändig gepflanzt. Sie ist Vegetarierin & Optimistin: "Ich stamme von fröhlichen Menschen ab!"
Das Phänomen "Brunetti": Kultfaktor, Kürbisravioli und Kriminalspaziergänge
Alles begann in der Dirigentengarderobe im Teatro La Fenice: Herbert von Karajan war kurz davor gestorben. Donna Leon erzählt, sie habe mit dem Dirigenten Gabriele Ferro und dessen Frau darüber geredet, "was wäre, wenn Karajan ermordet worden wäre".
Daraus entstand "Venezianisches Finale" (Diogenes, 1993) , der erste Kriminalfall für Commissario Guido Brunetti. Der 20. Fall, "Reiches Erbe", erscheint in deutschsprachiger Erstauflage von 200.000 Stück und ist unter dem Originaltitel "Drawing Conclusions" bereits auf den Bestsellerlisten in England und den USA.
Zahlen und Zukunft
Verkaufszahlen gibt der Verlag nicht preis. Man weiß aber, dass schon vom 1. Band 200.000 Stück auf Deutsch verkauft wurden. Und dass der Verlag seinen Autoren für eine Million verkaufter Exemplare die "Goldene Diogenes-Eule" verleiht – Donna Leon hat ihre bereits 1998 bekommen.
Und sie arbeitet weiter: "Beastly Things", der 21. Brunetti, ist vor Kurzem im amerikanischen Original erschienen, Band 22 hat sie soeben abgegeben.
Um den Kommissar und seine Frau Paola, eine Universitätsprofessorin, ist ein Kult entstanden: Das Kochbuch "Bei den Brunettis zu Gast" wird anlässlich des Doppeljubiläums, 20 Jahre Brunetti – 70 Jahre Donna Leon, neu aufgelegt. Nach dem Rezept von Donna Leons Lieblingsköchin werden u. a. Kürbisravioli zubereitet.
Touristen haben Toni Sepias Stadtführer "Mit Brunetti durch Venedig" (Diogenes) unterm Arm. "Deutschland, die Schweiz und Österreich sind das Zentrum des Kults", schmunzelt Donna Leon. Eine Erklärung für das Phänomen hat sie nicht: "Ich weiß es nicht, es macht Spaß, meine Bücher zu lesen, und man muss sich nicht genieren, wenn man es Freunden erzählt. Vielleicht mögen die Leute, dass Brunetti ein zivilisierter Mann ist und sich die Fälle im realen Leben abspielen."
Film und Fernsehen
Wenn die Titelmusik von André Rieu ertönt und Uwe Kockisch als Guido Brunetti ermittelt, sind nicht alle Donna-Leon-Fans restlos glücklich. Doch die Quote stimmt: Der am 14. April von ARD und ORF ausgestrahlte 18. Brunetti, "Schöner Schein", schlug in Deutschland mit 23,4 % Marktanteil "DSDS" (14,5 %) und "Schlag den Raab" (12,4 %) haushoch und kam in Österreich mit 821.000 Zuschauern unter die Top-10-ORF-Sendungen im April .
In den ersten vier Verfilmungen (Band 3,4,7 und 8) spielte übrigens der neue Frankfurter "Tatort"-Kommissar Joachim Król den Brunetti, Barbara Auer war seine Frau. Seit 2003 sind Uwe Kockisch und Julia Jäger Herr und Frau Brunetti.
Donna Leon hat keinen Fernseher. Sie schaut sich die Verfilmungen bei einer Freundin an und meint dazu: "Ich verstehe nicht gut genug Deutsch und gar nichts vom Filmemachen."