Kultur/Zugabe

Der Ermöglicher: „Wir haben eine gesellschaftliche Bringschuld einzulösen“

Die Kunstform Oper ist überholt, das Publikum ist überaltert oder stirbt weg, und ohne Weltstars samt dazugehöriger PR geht verkaufstechnisch gar nichts mehr. Was für manche Kulturinstitutionen gelten mag, wird in Lyon Lügen gestraft. Denn seit Serge Dorny im Jahr 2003 die Opéra National des Lyon übernommen hat, wurde eine tief greifende künstlerische Schubumkehr eingeleitet. Ur-und Erstaufführungen prägen den Spielplan, mutiges, zeitgemäßes Musiktheater ist zur Normalität geworden, und das Publikum zieht mit. „Wir halten bei einer Auslastung von etwa 90 Prozent“, sagt Serge Dorny. Aber: „Was viel wichtiger ist: Jeder vierte Besucher ist bei uns unter 25 Jahre alt. Als ich angetreten bin, bestand unser Publikum zu 85 Prozent aus Abonnenten, jetzt halten wir bei zwei Prozent; der Rest der Karten wird über den freien Verkauf abgesetzt.“

Die gute, alte Oper als angesagter Treffpunkt der Jugend, der Junggebliebenen, Weltoffenen und der Neugierigen – in Lyon ist das längst Realität. Nicht nur wegen der Skater, die um den von Jean Nouvel im Inneren modernisierten Bau ihre Kreise ziehen und auch Teil der musikalischen Gemeinschaft sind.

Polis

„Die Oper muss politisch sein. Aber nicht im Sinne der Tagespolitik, sondern im Sinne des Wortes Polis, also der Gemeinschaft“, sagt Dorny. „Als ich angetreten bin, habe ich mich gefragt: Welche Bedeutung hat dieses Haus für die Stadt, für ihre Bewohner? Wir bekommen immerhin Geld von der öffentlichen Hand und haben daher eine Bringschuld einzulösen. Nicht nur jenen Menschen gegenüber, die ohnehin an diesem Genre interessiert sind, sondern allen Menschen gegenüber. Ich sehe das Opernhaus als Kommunikationsdiamant, in dem alle gesellschaftlichen Fragen behandelt und ausdiskutiert werden können.“

Banlieues

Also ging Dorny „mit meinem wunderbaren Team“ in die Stadt hinaus. In Schulen, in Krankenhäuser, Sozialeinrichtungen und Gefängnisse und in die Banlieues. In jene Vororte der Stadt also, in denen es im wahrsten Sinne des Wortes auch heftig brennen kann. Mit dem Ergebnis, dass selbst einige der einst „schweren Jungs“ inzwischen ihre Liebe zum Musiktheater entdeckt haben.

„Wir sind natürlich eine Traumfabrik. Aber wir sollten eine Traumfabrik sein, die mehr kann als nur unterhalten. Wenn wir mit den künstlerischen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, keine gesellschaftlichen Diskurse führen, keine Fragen aufwerfen, dann werden wir zu einer bloßen Abspielfabrik des Immergleichen“, so der gebürtige Belgier.

Fundus

Stichwort „das Immergleiche“: Dorny glaubt fest an Ur-und Erstaufführungen. „Es gibt insgesamt so an die 50.000 bis 60.000 Opern. Aber was machen wir? Wir spielen maximal 60 bis 80 Opern aus diesem reichen Fundus. Als Intendant sehe ich mich geradezu verpflichtet, Auftragswerke zu vergeben oder unbekanntere Werke zu spielen. Aus einem ganz egoistischen Grund. Wenn wir den Fundus anreichern und erweitern, dann können wir uns auch besser aus ihm bedienen, dann ist die Auswahl größer. Ich will kein Türhüter eines Mausoleums sein. Wenn man sich nur als Verwalter, als Bewahrer des Vergangenen sieht, dann ist es ganz logisch, dass irgendwann für die Gattung Oper der letzte Vorhang fällt.“

Zurüstungen

Dorny weiter: „Ich sehe mich übrigens auch nicht als Intendant, sondern als Ermöglicher. Als jemand, der die verschiedenen sozialen Ebenen zusammenführt. Wenn wir diesen Aspekt vernachlässigen, haben wir über kurz oder lang keine Existenzberechtigung mehr.“ Doch lässt sich dieser Zusammenschluss der Gesellschaft auch über die Neuen Medien transportieren? „Die Neuen Medien sind Segen und Fluch zugleich. Segen, weil man über sie Leute erreichen kann, die man sonst niemals erreichen könnte. Und Fluch, weil die Neuen Medien alles verkürzen und sehr komplexe Tatsachen auf wenige Schlagwörter reduzieren. Es gibt da oft nur noch Schwarz-Weiß, nicht jene Farbtöne, die unser Leben in seiner gesamten Vielfalt ausmachen. Aber um für die Zukunft gerüstet zu sein, muss man auch mit den Neuen Medien arbeiten.“

Qualität

Hat Dorny Angst, dass die Neuen Medien eines Tages das Live-Erlebnis ersetzen? „Nein. Ein Live-Erlebnis ist nicht ersetzbar. Ebenso wenig wie das persönliche Gespräch, die direkte Kommunikation zwischen den Menschen. Man muss neue Wege gehen. Aber die Qualität des Ansehens, des Anhörens, der direkten persönlichen Beteiligung – die müssen wir in der Fülle an Informationen wieder erlernen. Die Medien, die uns eigentlich nur helfen sollten, haben heute einen Teil unseres Lebens übernommen, bestimmen uns. Da müssen wir das Ruder herumreißen, sonst bleiben wir als Menschen eines Tages auf der Strecke und werden zu Sklaven jener Technik, die wir selbst erschaffen haben. Dazu kann auch das Musiktheater beitragen. Wenn man etwa vier Stunden in der Oper sitzt und an einem Gemeinschaftsprozess teilnimmt, verändert sich auch die zeitliche Perspektive. Diese Entschleunigung, dieses Sich-Zeit-Nehmen zum Denken und Fühlen ist unendlich kostbar. Denn letztlich haben wir als Individuen und eine Verpflichtung gegenüber uns selbst und gegenüber unserer Umwelt. Und die lässt sich mit einem einzigen Wort zusammenfassen, mit dem Wort Glaubwürdigkeit.“

Serge Dorny
Der Opernintendant wurde 1962 in Belgien geboren, studierte Architektur, Kunstgeschichte, Archäologie, Komposition und Musikanalyse und begann seine Karriere als Dramaturg an der Oper Brüssel La Monnaie im Team von Gérard Mortier. Dorny war künstlerischer Leiter des Flandern-Festivals sowie Generaldirektor des London Philharmonic Orchestra. Im Jahr 2003 übernahm er die Opéra National de Lyon, die er zu einem der führenden Opernhäuser Europas machte. Dorny, der ein Verfechter des zeitgenössischen Musiktheaters ist, wird ab der Saison 2021/’22 die Intendanz der Bayerischen Staatsoper München übernehmen.