Kultur

Woher sollen sie wissen, wie man einen Staat gründet?

Ohne Unabhängigkeitskrieg gäbe es Israel nicht. Aber der Weg dorthin war grausam. Yoram Kaniuk ist ihn vor mehr als 60 Jahren selbst gegangen. So lange hat sein Roman „1948“ warten müssen. Erst jetzt kann er von den Schrecken dieses Krieges, der von Mai 1948 bis Juli 1949 dauerte, berichten.

Dabei hatte Kaniuk vorgehabt, „das Gegenteil eines würdigen Buches“ zu schreiben und es „Das Komischste, das mir im Krieg passiert ist“ zu nennen. Es war aber nicht besonders komisch. Als er neben einem toten Kameraden schläft, kommt die Nachricht, Ben Gurion habe den Staat Israel gegründet. „Das ist das Komischste, das mir in jenem Krieg passiert ist: Dass ich einen Staat gründete, während ich schlief, neben einem Kameraden, den es in zwei Teile zerrissen hatte.“

Im November 1947, kurz vor dem UN-Beschluss zur Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat, meldete sich der Schüler Kaniuk, um an der nationalen Aufgabe teilzunehmen – nämlich „Juden vom Meer ans Land zu bringen“ und einen jüdischen Staat zu gründen: „Ich war ein Tor, der sich aufgemacht hatte, ein Held zu werden und den Feind zu schlagen.“ Ein 17-Jähriger, der noch nicht einmal eine Frau nackt gesehen hatte. Das erste Mal, als er nackt vor einer Gleichaltrigen liegt, befindet er sich im Lazarett. Sie ist Nonne, ihm wird das Bein amputiert.

Warum er in den Krieg wollte? „Ich wusste, dass Tausende Holocaustüberlebende an Bord kleiner Schiffe auf dem Meer herumtrieben, weil kein Land sie haben wollte.“ Und dann wusste er, was Herr Goebbels so über die Juden gesagt hatte. Und sonst?

Verschwommen

„1948“ ist zum Teil autobiografisch. Kaniuk packt verschwommene Erinnerungen aus und hinterfragt den zionistischen Mythos: Hatten sie für die Gründung eine Staates gekämpft? „Woher sollten sie denn wissen, wie man so etwas macht?“
Der Roman beschönigt nichts. Man solle lächeln, wenn man mit dem Bajonett losläuft, um den Feind abzustechen, wird ihm erklärt. Und wenn man ein Siebzehnjähriger ist, der einen Achtjährigen abknallen muss? Man macht zuerst in die Hose.

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1955 traf Kaniuk einen Mann, der sagte, Unabhängigkeitskriege dauerten viele Jahre. Der Krieg, der 1920 in Jerusalem begonnen habe, würde noch mindestens hundert Jahre dauern. Es gebe Sicherheitsabkommen, aber immer noch keinen Frieden und keine Zukunft und keine Ruhe. Der Autor selbst hielt den Krieg für beendet.
Wie recht doch der eine, wie unrecht der andere hatte.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Merkwürdig, wenn ein Mensch, kurz bevor er stirbt, sich von einem vermeintlich gut Bekannten in einen völlig Fremden verwandelt.
Wenn, sagen wir, ein Vater im Krankenhaus im Sterben liegt und sein Sohn eine Dokumentenmappe findet, die das Leben des Sterbenden in einem komplett anderen Licht erscheinen lässt.

Die Frage ist: Will man das wissen? Erinnert man sich nicht lieber an eine idyllische Kindheit als an politisch aktive Eltern zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur?

Vergangenheit

Dem Erzähler in Patricio Prons Roman „Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf“ passiert genau das: Er entdeckt die ihm bisher unbekannte Vergangenheit seiner Eltern. Entdeckt, dass sie für ihre politischen Überzeugungen das ihm unbeschwert scheinende Familienleben riskierten.
Patricio Pron, 1975 in Buenos Aires geboren, studierte in Deutschland und lebt heute in Madrid. „Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf“ ist sein erster Roman, zuvor veröffentlichte er Erzählungen.

Mehrheitlich autobiografische Romane mit ungeklärt hohem Prozentsatz an fiktionalem Erzählen haben Konjunktur. Auch in diesem Buch entsprechen die Ereignisse, so der Autor, in weiten Teilen der Wahrheit.

Deutschlandreise

Acht Jahre, von April 2000 bis August 2008, reiste der Erzähler durch Deutschland, besuchte hin und wieder einen Psychiater. Warum? Wer weiß. Er hofft, seine Kinder werden es ihm erzählen: „Kinder sind die Detektive ihrer Eltern, die sie in die Welt entlassen, damit sie eines Tages zu ihnen zurückkehren.“ Dass Kinder „nicht die Richter ihrer Eltern sind“ , wird den Eltern zugutekommen: Er wird Unangenehmes über sie erfahren.

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Als der Vater erkrankt, kehrt der junge Reisende nach Argentinien zurück. Und wie immer, wenn es heißt, es sei nichts Ernstes, ist es bitterernst. Im Arbeitszimmer des Schwerkranken findet er Briefe, Fotos und Zeitungsausschnitte, die belegen, dass dieser gegen die Diktatur gekämpft hatte.

Zu erfahren, dass der Vater ein Held war, ist eine Last: „Ich fragte mich, was meine Generation anzubieten hätte, das sich mit der genüsslichen Verzweiflung und dem Gerechtigkeitseifer der Vorgängergeneration, der unserer Eltern, messen könnte.“

Welch furchtbare ethische Vorgaben.

KURIER-Wertung: **** von *****

Ein oberpfälzisches Dorf in den Achtzigerjahren. Karl, der Bub mit den speckigen Oberschenkeln, wächst in einem Haus auf, in dem ein Esel ein eigenes Zimmer hat. Weil Karls Mutter glaubt, im Stall werde der arme Esel von den Ponys gequält.

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Die Mutter hat oft unkonventionelle Ideen. Etwa die, sich eines Tages eine rosa Unterhose über den Kopf zu ziehen und vom Balkon zu springen. Karl ist elf, als sich seine Mutter umbringt. Er lebt mit seinem Bruder Lorenz eine ungewöhnliche Kindheit auf dem Land. Die Liebe zum wilden Mädchen Elsa, dem ebenfalls die Mutter abhanden gekommen ist, verbindet die ungleichen Brüder. Beide wird es in die Untiefen der Kunstwelt verschlagen, wo sich Lorenz verliert.

Astrid Rosenfeld legt nach ihrem tollen Debüt „Adams Erbe“ mit „Elsa ungeheuer“ wieder einen Familienroman vor. Die 36-jährige Kölnerin schreibt schnittig, verwendet die richtige Dosis Kuriosität und hat viel Gespür für Dramaturgie.

KURIER-Wertung: **** von *****