Willie Nelson: Widerstand ist zwecklos!
Von Guido Tartarotti
Seien wir doch einfach einmal ehrlich: Ein Album, das mit den Zeilen beginnt „Als er sie zum ersten Mal sah, wusste er, dass alles anders geworden war“, das kann nicht schlecht sein.
Wir alle haben gelernt, cool zu sein. Gefühle haben in einem modernen Leistungsleben nichts verloren, sie werden in „Merci“-Werbespots zwischengelagert, wo man sie, wenn es einmal sein muss, jederzeit gefahrlos besichtigen kann.
Und dann kommt der alte Romantiker Willie Nelson daher, zieht kurz am Joint, und haut ein Album raus, so prall gefüllt mit Liebe und Schmerz, dass jeder Widerstand zwecklos ist.
87!
87 Jahre ist er übrigens mittlerweile alt, „First Rose Of Spring“ ist sein 70. Studioalbum, und er klingt darauf kein bisschen müde. Sagen wir so: Es gibt Sänger, die sind halb so alt, und haben weniger Stimme. Und immer noch spielt er diese unverwechselbaren, kleinen, vor Sentiment triefenden Soli auf seiner zerschundenen, alten Gitarre, und man verfällt ihm bereitwillig und sofort.
Möglicherweise sollte man ja den Spruch abwandeln: Wir müssen nicht darüber nachdenken, welche Welt wir Keith Richards hinterlassen – sondern Willie Nelson. Sein ununterbrochner Marihuana-Konsum – er ernährt sich im Wesentlichen von dem Kraut – hat ihn offenbar für die Ewigkeit konserviert.
Im schon angesprochenen, selbst komponierten Titelstück erzählt er die Lebensgeschichte einer großen Liebe in gerade einmal 22 Zeilen, und dennoch sieht man alles vor sich: Das Kennenlernen, die Hochzeit, die Kinder, die Liebe, die vielen Jahre.
Und natürlich – wir befinden uns hier schließlich in der Country-Musik! – geht die Geschichte traurig aus. Denn auch, als er sie zum letzten Mal sieht, weiß er, dass nichts mehr so sein wird wie vorher.
Wer da keine feuchten Augen bekommt, der ist aus Stein oder Kopierer-Papier gebaut.
Söhne der Freiheit
Viele wunderbare Stücke befinden sich auf dem Album. Etwa „Our Song“ aus der Feder der Country-Hitmaschine Chris Stapleton, das Nelson angenehm lakonisch interpretiert.
Oder das hinreißende „We Are The Cowboys“ von Billy Joe Shaver: „We are the Cowboys, the true sons of freedom“ heißt es da – und ehrlich, gibt es einen besseren Markenslogan für den ewigen Outlaw Nelson?
Natürlich gibt es zwischendurch auch weniger Bedeutsames, oft ergibt er sich dem Sentiment, aber es wird nie banal oder kitschig. Nelson kann auch der vorhersehbarsten Melodie etwas Interessantes abgewinnen.
Alles ist gut
Zum Schluss wird es noch einmal ganz groß: Nelson nimmt sich „Hier Encore“ von Charles Aznavour vor – bei ihm heißt das Stück „Yesterday When I Was Young“. „Yesterday, when I was young“, singt er. „The taste of life was sweet. So many happy songs where waiting to be sung.“
Dazu weinen die Geigen ein bisschen, Nelsons alte Gitarre singt eine traurige Melodie, und plötzlich wird aus Chanson Country und umgekehrt, und alles ist gut.
Was für ein hinreißendes Album für die Corona-Zeit – ein Album zum Einsamsein – oder um einander im Arm zu halten.