Kultur

Wiener Philharmoniker ehrten NS-Kriegsverbrecher

Es begab sich am 31. März 1942, da wurde im sogenannten Neuigkeits-Welt-Blatt Folgendes berichtet: Der „Führer“, also Adolf Hitler, hätte dem Orchester anlässlich der Hundertjahrfeier ein Glückwunschtelegramm aus seinem Hauptquartier geschrieben.

Darin heißt es: „Den Wiener Philharmonikern danke ich für die freundlichen Grüße, mit denen sie meiner bei der Feier ihres 100-jährigen Jubiläums gedacht haben. Ich verbinde damit meine besten Wünsche für ihr weiteres Wirken im Dienste der deutschen Kunst.“ Gezeichnet: Adolf Hitler.

"Ehrenring" für Seiß-Inquart

Und in einem Artikel über die „Festsitzung der Wiener Philharmoniker“ wird gemeldet: „Vorstand Professor Jerger gab sodann die Ehrungen bekannt, mit denen auf Grund der jüngsten Generalversammlung folgende Persönlichkeiten geehrt wurden: Der Ring der Wiener Philharmoniker wurde an Reichsminister Dr. Seyß-Inquart verliehen ...“

Diese Nachricht fand sich auch im Völkischen Beobachter und in der Deutschen Reichspost.

Arthur Seyß-Inquart – das war Hitlers Reichsstatthalter der „österreichischen Landesregierung“, ab 1940 Reichskommissar für die besetzten Niederlande und dort verantwortlich für die Deportation von mehr als 100.000 Juden in Vernichtungslager. Beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde er 1946 schuldig gesprochen und hingerichtet.

Diese Auszeichnung für den Kriegsverbrecher ist der bisher problematischste Fall in der Diskussion über die Rolle des Orchesters in der Nazi-Zeit. Dieses Thema war vor dem Neujahrskonzert erneut aufgeflammt, woraufhin die Philharmoniker in Aussicht stellten, sich jetzt wieder aktiv der Aufarbeitung zu widmen.

Seyß-Inquart war freilich nicht der Einzige, der bei diesem Jubiläum ausgezeichnet wurde. Der Reichsstatthalter und Gauleiter Friedrich Rainer (Klagenfurt) erhielt die Nicolai-Medaille des Orchesters. Diese bekamen auch die Dirigenten Karl Böhm, Willem Mengelberg oder Clemens Krauss, der Autor Gerhart Hauptmann und viele andere. Der Dirigent Hans Knappertsbusch wurde Ehrenmitglied.

"Verteilungsorgie"

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„Das war eine richtige Verteilungsorgie“, sagt der Historiker Oliver Rathkolb zum KURIER. Er ist selbst erst über die Berichte in den alten Medien darauf gestoßen.

Wie erklärt sich der renommierte Historiker, dass jemand wie Seyß-Inquart ausgezeichnet wurde? „Seyß-Inquart spielte damals in Wien eine wichtige Rolle. Vielleicht war diese Auszeichnung die Belohnung dafür, dass er sich für die Selbstständigkeit des Vereins der Wiener Philharmoniker eingesetzt hat. Dieser war ja 1938 bereits kurzfristig aufgelöst.“

Zuletzt hatte es auch Debatten über einen Ehrenring an den damaligen Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, gegeben, der in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Ihm soll nach der Rückkehr aus dem Gefängnis ein Duplikat überreicht worden sein. „Das soll Ende 1966/Anfang 1967 gewesen sein“, sagt Rathkolb. „Aber auch Schirachs Familie weigert sich bis heute, den Namen des ominösen Überbringers zu nennen.“

Auszeichnungen für hohe Nazi-Funktionäre waren jedenfalls keine Seltenheit. Rathkolb: „Ich erinnere nur an die vielen Ehrenbürgerschaften für Adolf Hitler.“

47 Prozent der Wiener Philharmoniker waren in der NS-Zeit Mitglieder der NSDAP (wenn man, wie es der aktuelle Orchestervorstand Clemens Hellsberg getan hat, die Parteianwärter und Vorfeldorganisationen dazuzählt). „Das ist überdurchschnittlich hoch“, sagt Rathkolb. Bei den Berliner Philharmonikern waren es 20 Prozent.

Wie es zu diesem hohen Anteil kam, erklärt Rathkolb so: „Die NSDAP war dort am erfolgreichsten, wo es hohe Arbeitslosigkeit oder ein sehr niedriges Einkommen gab. Und der soziale Druck auf Musiker war in dieser Zeit enorm hoch. Selbst Konzertmeister wie Arnold Rosé hatten so gut wie kein Vermögen.“

Vasallen des Ungeistes

Rathkolb verteidigt Hellsberg nicht nur, sondern nennt ihn einen „Vorreiter in der Aufarbeitung“ der Orchestergeschichte. „Er war 1992 der erste, der in seinem Buch ,Demokratie der Könige‘ alle Opfer genannt hat und sich kritisch mit den NSDAP-Mitgliedern als ,Vasallen des Ungeistes‘ auseinandergesetzt hat. Dafür wurde er auch von den Medien – vom Spiegel bis zum profil – gelobt.“ Andere Institutionen seien zu dieser Zeit noch nicht annähernd so weit gewesen.

Jetzt wird Rathkolb, gemeinsam mit seinen Historiker-Kollegen Fritz Trümpi und Bernadette Mayrhofer, die Rolle des Orchesters in dieser Zeit nochmals untersuchen und „das vorhandene Wissen zusammenführen“. Ende März soll „der letzte Stand der Forschung“ auf der Webseite des Orchesters veröffentlicht werden.

Seit den 1980er-Jahren beschäftigt sich Rathkolb damit. Durch die neuen Erkenntnisse bestehe aber die Möglichkeit, „dieses Thema wieder offensiv anzugehen und mit neuen Quellenfunden vertieft öffentlich zu machen“.

Die Wiener Philharmoniker gehen jetzt in die Offensive und lassen die Rolle des Orchesters in der NS-Zeit von drei Historikern detailliert aufarbeiten (siehe oben).

Aber wie konnte es sein, dass etwa niemand von einer nachträglichen Auszeichnung wie jener für Baldur von Schirach wusste?
„Es gibt in den Protokollen der damaligen Versammlungen nicht den geringsten Hinweis darauf“, sagt Orchestervorstand Clemens Hellsberg. Auch Amtsvorgänger hätten ihm versichert, dass nach dem Krieg in den Versammlungen nie davon die Rede gewesen sei.

Nun soll genau überprüft werden, wer vom Orchester ausgezeichnet wurde, auch nach dem Krieg. Und ob es vielleicht doch schon Distanzierungen von manchen (wie etwa von Seyß-Inquart) gab. „Wenn nicht, werden wir in der nächsten Versammlung einen diesbezüglichen Antrag einbringen.“ Möglicherweise kommt es zu Aberkennungen.

Die Ermordeten

Hellsberg selbst hat bereits im Jahr 1988 über die ermordeten und vertriebenen Mitglieder des Orchesters geschrieben. Sechs jüdische Musiker wurden ermordet. Elf Mitglieder wurden vertrieben. Dieser Artikel erschien drei Jahre vor der legendären Rede des damaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky (1991).

1992 wurde dann Hellsbergs Buch „Die Demokratie der Könige“ veröffentlicht. „Dieser Zeit war im Buch ein wichtiges Kapitel gewidmet. Aber es war keine Spezialarbeit zu diesem Thema, sondern ein Buch über die 150-jährige Geschichte des Orchesters.“ Das Werk sei „ein Beginn, aber nicht der Abschluss eines Prozesses gewesen“, sagt Hellsberg. Jetzt müsse alles nochmals genau untersucht werden, nämlich von unabhängigen Historikern. Am Montag soll der Beschluss dazu fallen.

Die Auszeichnung für Seyß-Inquart erklärt Hellsberg auch mit dem „hohen Prozentsatz an Parteimitgliedern im Orchester, die politisch motiviert agierten“. Und mit einer „Anbiederung an die Machthaber“. Es sei jedenfalls „eine Tatsache, der man sich stellen muss“.

Das Orchester sei laut Hellsberg 1938 auch nach der Auflösung des Vereins „nicht in Gefahr gewesen“. Aber es wäre in ein „Reichsorchester umgewandelt worden“ und damit in ein „Propagandainstrument“.

Die Auszeichnungen

Der Ehrenring der Wiener Philharmoniker wurde 1933, zum 25-Jahr-Jubiläum des Vereins, geschaffen. Er wird auch an Orchestermitglieder nach 25-jähriger Zugehörigkeit verliehen. 1942 wurde die Nicolai-Medaille (in Erinnerung an Otto Nicolai, der 1842 das Orchester gründete) für künstlerische Verdienste begründet. Seit 1963 gibt es die Franz-Schalk-Medaille, benannt nach dem Dirigenten und ehemaligen Staatsoperndirektor.