Wien ist kulturell längst vielfältiger als die Kultur
Von Georg Leyrer
Als Wiener denkt man sich „Kulturstadt“, jo, eh.
Nur grantelt das über einen Fakt hinweg, der, aus der Distanz betrachtet, eigentlich absolut erstaunlich ist. Und ein einzigartiges Asset für eine Stadt, das sich andere – Stichwort Bilbao – mit hohem Aufwand herbeifinanzieren. Denn egal, wo man in der Welt ist: Wien wird wirklich mit Kultur assoziiert. Selbst erlebt von Südamerika bis Asien. Die Kultur ist eine positive Konnotation für Wien, bei der die Menschen anderswo ins Schwärmen, ins Verklären geraten. Und genau da tun sich die Probleme auf.
Denn das Äquivalent zum „Paris, Stadt der Liebe“-Klischee ist „Wien, Stadt der Weiße-Perücken-tragenden Klassikmusiker“.
Mit der Stadt wird irgendwas zwischen Hollywood-Kulturkitsch (Hauptdarstellerin sitzt weinend in der Oper, zu hören: Puccini), Donauwalzer beim Neujahrskonzert und Mozart-Optik assoziiert. Das ist zwar touristisch lukrativ und uneingeschränkt eh schön, hat aber mit einer zukunftsfitten Kulturstadt wenig zu tun: Wenn nach Wien in der Zeit gereist wird, dann in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft. Und die Wiener selbst, die wollen anderes.
Weltweit bekannt
Es ist kein Klischee, keine falsche Selbstwahrnehmung: Wien ist als Kulturstadt international eine Riesennummer. Besonders positiv besetzt sind die klassische Musik, die Kunst und die Architektur
Lokal mit Problemen
Als Wiener geht man, so heißt es, nur zweimal im Leben ins Kunsthistorische Museum: als Kind und als Großeltern. Das stimmt zwar wohl nicht, aber die Sicht der Wiener auf das eigene Kulturangebot unterscheidet sich wesentlich von jener des internationalen Publikums. Für viele Zielgruppen gibt es überhaupt kein entsprechendes Angebot, das will man bis 2030 eventuell ändern
Was, das versucht die Wiener Kulturpolitik im Moment herauszufinden. Denn wie das Kulturangebot in einer Stadt aussehen könnte und müsste, in der ein immer größerer Teil der Menschen nicht mit Nestroy, Beethoven und Klimt sozialisiert ist, mit klassischer Musik und Sprechtheater wenig(er) anfangen kann und sich auch vom popkulturellen Gesamtangebot nicht unbedingt abgeholt fühlt erforscht man gerade.
Es gibt in diesem Prozess keinen Zweifel: Allabendlich spielt es in dieser Stadt klassische Musik auf Weltspitzenniveau. Die Museen bergen Schätze Alter Meister und noch wichtigere Schätze der Wiener Moderne. „Burgtheater“ spricht man in der Bühnenwelt immer noch mit einem besonderen Ehrfurchtston aus. Und in den letzten Jahrzehnten war die Stadt auch mal Epizentrum elektronischer oder hervorragender Popmusik (und dereinst auch des Musicals, aber dort macht man längst nur noch Dienst nach Vorschrift).
Was die Kulturmaschine der Stadt bringt
Wien, mit seiner komplexen Mischung aus Bundes- und städtischen Kulturinstitutionen, ist eine gewaltige Kulturmaschine, von der ein Großteil des Tourismus betrieben wird und die auch all die Rankings anschiebt, in der die Stadt zur lebenswertesten weltweit gekürt wird.
Ein bekannter Fakt ist aber auch: Mit dem, was in Staatsoper und Burgtheater, in der Albertina und im KHM, selbst in der Arena und im Rabenhof geboten wird, wird abseits der Touristen nur eine bestimmte Zielgruppe abgebildet, die, sagen wir mal, nicht wächst. Wien ist kulturell längst weit vielfältiger als das Kulturangebot. (Beethoven und Mozart waren übrigens auch Zugereiste.)
Um hier hineinzuhorchen, verpasste sich die Stadt eine „Kulturstrategie 2030“. Die soll die kulturpolitischen Schwerpunkte der kommenden Jahre festlegen und Orientierung bringen, „was es für eine zukunftsfähige Kunst- und Kulturszene braucht“, wie Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler sagt.
Vorgegeben
Ein bisserl ein Problem ist, dass hierfür vor allem die eh schon Kulturinteressierten (es startet jetzt eine große Umfrage) und die Kulturszene selbst befragt wird. Deren Chefinnen und Chefs speisen sich längst aus einer Zirkelbestellung, die sich immer weiter verengt, und so sind die Antworten, die dieser Prozess finden wird, schon jetzt vorhersagbar.
Denn das, was die Festwochen und alle neu gekürten Theaterchefinnen und alle neu gekürten Museumsleitungen und überhaupt alle, die einen hochrangigen Kultur-Job ergattern, immer als erstes herbeibeschwören, ist ja längst ein Running Gag ohne Pointe geworden: Dass nämlich die Kultur doch jetzt endlich wirklich hinaus müsse und die Menschen dort erreichen möge, wo die sind, und auch das junge und auch das migrantische Publikum erobern muss.
Und dann bringt man mit dem angestrengten Blick des Naturforschers abstrakte Performances in irgendwelche Stadtentwicklungsprojektbrachen, nimmt als Flankenschutz das eigene Publikum mit, und am Schluss ist nichts erreicht: Das bereits eroberte Publikum klopft sich und einander auf die Schultern, das neu zu erobernde Publikum schaut ratlos und zerstreut sich. Im Jahresbericht der Institutionen klingt das dann nach großem Erfolg.
Mit derartigen Diversifizierungsperformances kommt man aber im Wesentlichen nicht weiter. Auch viele andere Themengebiete, die die „Kulturstrategie 2030“ als zu beackernde Felder ausgemacht hat, bilden zwar den Status quo einer in Kulturkreisen geführten Debatte ab, werden aber keines der Publikumsprobleme lösen: Man sinniert über „krisenresiliente Kunst- und Kulturszene“, „leistbare Kultur und inklusive Teilhabe“ oder „Klimaverträglichkeit“ der Branche.
Sicher ehrenwert, aber darum geht es nicht.
Abgegeben
Worum es geht, ist Wien sanft an jene Bereiche und Realitäten heranzuführen, die die kommenden Jahre die Kulturbranche bestimmen werden. Es ist zwar relativ, aber Wien ist trotzdem die jüngste Gegend in Österreich. Diese Altersstruktur ist in der Kulturbranche aber nur unzureichend abgebildet. Ebenso die Bevölkerungsstruktur: Viel wird für das studentische und kulturgeschulte Publikum getan (etwa im Volkstheater und bei den Festwochen), wenig für das kulturferne, aber neugierige. Um diese für Kultur niederschwellig zu interessieren, gab es einst das klassische Volkstheater; Derartiges – einfach, ansprechend, erzählerisch, ohne große Hürden – fehlt heute völlig.
Ebenso der kulturelle Blick auf die Stadtrealität, auf jene Geschichten, die sich die Wiener heute übereinander erzählen sollten. Daran ändern (verzögerte) Großbauten für international tourende Popacts nichts (vielleicht zumindest das neue Wien Museum ein bisschen): Das Angebot in Wien entfernt sich immer mehr von der Gegenwart – und den Wienern.