Warum wir Schnittblumen lieben. Der Trend zum Toten
Die Gladiolen gehen, die Sommerastern kommen. Wer das nicht weiß oder – noch schlimmer – mit so einem Satz gar nichts anzufangen weiß, der wurde vermutlich noch nicht von dem Virus erfasst, der aktuell in vielen Haushalten grassiert.
Es geht um Schnittblumen. Im Frühjahr waren sie plötzlich überall. Nicht, dass früher keine Schnittblumen gekauft worden wären. Aber plötzlich warfen auch Leute zwischen Mitte 20 bis Mitte 30 ihr Geld für Blumen aus dem Fenster, setzten ganze Armeen davon auf Instagram in Szene, redeten privat oder in den sozialen Medien darüber. Menschen, die Ende 2019 noch die After Hours der Stadt unsicher gemacht haben, benutzen heute Sätze, die mit „Meine Floristin sagt…“ begannen.
Das ist zum einen eine logische Konsequenz von Langzeittrends. Und hat zum anderen natürlich mit der gewaltigen Disruption durch Corona zu tun. Der Trend geht bereits seit etwas Längerem ins Private. Die Generation Y wächst aus dem Fortgeh-Alter heraus, die nachwachsende Generation Z hat nachweislich weniger Lust darauf, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen.
Rückzug und Normcore
Dementsprechend wurde in den letzten Jahren viel geschrieben vom Rückzug ins Biedermeier, von Modetrends wie „Normcore“, einer Überstilisierung von stinknormaler Kleidung. Auch das steigende Angebot für Töpfer- und Fermentierkurse trägt dieser Entwicklung Rechnung. Doch in vielen Fällen hatte das Ganze etwas Kokettes: Normcore machte Spaß, weil es als aktive und potenziell reversible Entscheidung erschien. Man war spießig, trug Strickjacken, behielt sich aber immer einen Fuß außerhalb der Tür der sanierten Altbauwohnung, zumindest solange noch keine Kinder da waren.
Heimische Idylle
Corona machte aus dem Witz plötzlich bitteren Ernst. Der Lockdown zwang die Menschen, ihr Leben wirklich auf den 60 Quadratmetern ihrer Wohnung zu leben. Es gab nur vier Gründe, das Haus zu verlassen, und das war der Grund, warum so viele ihr Haus verschönern mussten. Ein Schrei nach Idylle wurde laut, und die Schnittblumen antworteten. Junge Blumengeschäfte, vor allem in Wien, erkannten die Chance im Unglück. Sie begannen Lieferdienste anzubieten und fluteten Instagram mit Werbung in Influencer-Ästhetik.
Schnittblumen brachten von Natur aus alles mit, um zum Must-have des Lockdowns zu werden. Sie sind wunderschön und bringen Farbe in die Wohnung. Es gibt eine große Auswahl, viele sind Saisonware, man sieht sich also nicht so schnell an ihnen satt. Sie sind zwar teuer, aber das sind Statussymbole ja meistens. Und für die Menschen, die noch Geld haben, war es in den vergangenen Monaten ohnehin schwierig, es außerhalb der eigenen vier Wände auszugeben.
Jetzt ist die Verbindung von Pflanzen und jungen, hübschen Menschen nicht ganz neu. Seit Jahren gibt es das Phänomen der „Plantfluencer“: Menschen, die viel Zeit und Energie in ihre Pflanzen stecken und Fotos von ihnen mit Hashtags wie #urbanjungle oder #Monsteramonday (wo es um die Monstera, das „Fensterblatt“, geht) auf Instagram teilen. Doch bei den Plantfluencern geht es um Zimmerpflanzen, was den Job härter macht. Das sind Lebewesen mit speziellen Bedürfnissen, bei denen man viel falsch machen kann. Man stellt sie zu viel oder zu wenig in die Sonne, vergisst zwei Mal das Gießen, schon hat man ein Leben auf dem Gewissen.
Schnittblumen haben den Vorteil, dass man zu spät kommt, um sie umzubringen. Bei der Ankunft in der eigenen Wohnung sind die Blumen bereits tot, sie wissen es nur noch nicht. Es ist nicht so, dass man hier keine Fehler machen kann: Man sollte das Wasser gelegentlich wechseln und die Blumen alle drei Tage neu anschneiden. Aber im Grund verkürzen die Fehler das untote Dasein der Blumen auch nur um ein paar Tage. Das ist unterm Strich nichts, was ein schlechtes Gewissen rechtfertigen würde.
Anderer Gesamtmarkt
Leider hat diese schöne Geschichte auch eine zweite Seite. Während die Attraktivität von Schnittblumen für ein junges, urbanes Publikum im Frühjahr in die Höhe schnellte, brach der „normale“ Markt weg: Supermärkte konzentrierten sich auf Klopapier und Nudeln, der internationale Lkw-Verkehr war wochenlang gestört. In den Niederlanden – einem der Hauptexporteure, vor allem von Tulpen – brach der Umsatz in der Hauptsaison um 60 Prozent ein, Millionen von Gewächse mussten geschreddert werden. Der Markt hat sich wieder gefangen, bei vielen Blumengeschäften und Händlern bleibt trotzdem ein dickes Minus aus dem Frühjahr.
Der Schnittblumen-Trend erinnert damit auch wieder daran, dass es für viele Produkte einen Gesamtmarkt – der normalerweise behäbig reagiert – und ein teures, spitzes Segment gibt, das anfällig für Trends ist. Und dass die Entwicklung dieser beiden nicht unbedingt zeitlich parallel verläuft.
Man wird sehen, wie viel vom Schnittblumen-Trend übrig bleibt, wenn es irgendwann mal so etwas wie ein Post-Corona-Leben gibt. Bis dahin sollte man seinen Sommerastern genießen. Im November kommt dann ja schon die Amaryllis.
Von Jonas Vogt.