Kultur

"The Look of Silence": Der Geschmack von Blut

Menschliches Blut schmecke salzig und süß, erzählt ein zahnloser Greis, der auf den ersten Blick harmlos aussieht. Das wisse er, weil er selbst Blut getrunken habe. Warum? Um nicht verrückt zu werden. Denn wer zu viel mordet, muss Blut trinken, um bei Verstand zu bleiben.

Die Morde, von denen der Mann spricht, waren Teil der indonesischen Massaker der Jahre 1965/66. Nach dem Sturz der Regierung durch das Militär wurden etwa eine halbe Million angeblicher Kommunisten hingeschlachtet – auf atemberaubend brutale Weise. Der faltige Alte ist einer jener reuelosen, niemals bestraften Massenmörder.

In seinem unfassbaren Film "The Act of Killing" dokumentierte US-Regisseur Joshua Oppenheimer diese Greueltaten. Eigentlich wollte er mit den Opfern sprechen, doch diese fürchten immer noch um ihr Leben. Stattdessen traf er auf auskunftsfreudige Ex-Killer.

Angestachelt von der Kamera, demonstrierten sie mit schamloser Bereitwilligkeit, wie sie Frauen die Brüste abschnitten oder Gefangene mit der Machete zerhackten. Dabei funkelte ihnen teilweise noch die Mordlust in den Augen, dass man sich beim Zusehen übergeben möchte.

Genau dieser Umstand machte "The Act of Killing" – bei allen seinen Verdiensten – auch so problematisch: Sie bot den Tätern die Bühne, um ihre Morde – teilweise lustvoll – zu "re-enacten". Nachdem im heutigen Indonesien die Mörder von gestern in wichtigen Positionen sitzen, brauchen sie sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen: Es sind die Angehörigen der Opfer, die sich fürchten müssen.

Was bedeutet es, in einer Gesellschaft zu leben, die ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat? Eine gute Lektion für all jene, denen bei dem Wort Vergangenheitsbewältigung das Gähnen kommt.

"The Look of Silence" macht dies besonders deutlich. Es handelt sich um den Komplementärfilm zu "The Act of Killing" und nimmt die Perspektive der Opfer ein. Adi, ein Optiker Mitte Vierzig, fragt seine Mutter: Wie es sei, täglich mit Nachbarn im Dorf konfrontiert zu sein, die ihr den Sohn – Adis älteren Bruder – hinrichteten?

"Ekelhaft", antwortet die alte Dame. Sie hoffe auf Gerechtigkeit im Jenseits – denn auf Erden werde sie die nicht mehr erleben. Tatsächlich trifft Adi bei seinen Kundenbesuchen auf die Mörder seines Bruders. Begleitet von Oppenheimer stellt er unliebsame Fragen – und wahlweise streiten sie ihre Schuld ab oder drohen mit Repressionen. Von Reue keine Spur.

Anonymous

Nur einmal begegnet er einer Frau und ihrem alten Vater. Sie wäre als Kind immer stolz auf den Papa gewesen, weil er so viele Kommunisten getötet habe, erzählt sie dem niedergeschmetterten Adi. Auf einmal beginnt sich der senile Greis an ihrer Seite zu regen. Plaudert unvermutet von abgeschnittenen Köpfen und Blutgetränken. Wellen der Fassungslosigkeit laufen über das Gesicht der Tochter und lassen sie schließlich ein "Verzeihen Sie meinem Vater" stammeln.

Dass die Vergangenheit nicht tot, ja nicht einmal vergangen ist, beweist der Abspann: Fast ein Drittel aller Mitarbeiter muss sich hinter dem Namen " Anonymous" verstecken.

INFO: The Look of Silence. DK/ID 2014. 103 Min. Von Joshua Oppenheimer und Anonymous.

KURIER-Wertung:

Alle Inhalte anzeigen

Am 3. Oktober 2013 ertranken vor der Insel Lampedusa 380 Menschen. Kurz nach dem Bootsunglück, im Winter 2013/2014, drehte der Wiener Doku-Filmer Jakob Brossmann seine berührende Bestandsaufnahme: Vom Alltag der knapp 5000 Lampedusaner – zwischen dem Flüchtlingsstrom aus Nordafrika und den eigenen, oft miserablen Lebensverhältnissen. Gleich zu Beginn streiken die Fischer aufgrund der unzulänglichen Schiffsfähre, die Lampedusa mit dem Festland verbindet. Weder der Müll noch der Fischfang kann adäquat transportiert werden. Es kommt zu Versammlungen und Demonstrationen, unter ihnen die engagierte, oft aber auch machtlose Bürgermeisterin.

Parallel dazu fristen Flüchtlinge ihr karges Leben. Auch sie revoltieren – gegen ihre unzulängliche Unterbringung und für den Weitertransport in ein Gastland.

Nicht allzu viele der Inselbewohner interessieren sich für ihr Schicksal, doch Brossmann verzichtet auf Bewertungen. Stattdessen bleibt er genauer Beobachter prekärer Lebensverhältnisse. Und widmet seinen eindringlichen Film Europa

INFO: I/Ö/CH 2015. 93 Minuten. Von Jakob Brossmann. Mit Giusi Nicolini.

KURIER-Wertung:

Alle Inhalte anzeigen

Was macht die Wirtschaftskrise und die damit einhergehenden Verwerfungen mit einer Gesellschaft? Sie hinterlässt viele Spuren, die vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, aber die Stimmung in einem Land nachhaltig prägen. Bitterkeit, Verarmung, Resignation, Prekariat machen sich breit, Hoffnung wird zur weichen Währung. Die Masse darbt, während wenige es sich richten.

Nichts Geringeres als diese unerfreuliche Metamorphose seines Landes einzufangen, dem von der berühmten Troika 2013 und 2014 ein strenges Austeritätsprogramm auferlegt wurde, hat sich der portugiesische Filmemacher Miguel vorgenommen. In seinem gewaltigen Triptychon „1001 Nacht – Der Ruhelose/Der Verzweifelte/Der Entzückte“ erzählt er die Geschichten der Verlierer Portugals in einer Mischung aus Realität, Fiktion, Dokumentarischem und Märchen. Scheherezade, die kluge Wesirtochter aus „1001 Nacht“, verbrämt die Geschichten mit Fabeln und wunderlichen Gestalten. Ihre Helden sind die einfachen Menschen. Die Troika-Repräsentanten selbstgefällige Idioten, die auf Kamelen reiten und sich an einer Dauererektion erfreuen.

Großartig ist die Sequenz im 2. Teil, in der eine Richterin in einem Amphitheater mit so vielen Fällen, die aus der Verzweiflung der Menschen resultieren, konfrontiert ist, dass sie sich zu richten außerstande sieht. Ganz Portugal steht quasi vor ihrem Tribunal, und wie kann über das System eines Landes geurteilt werden? Oder die Geschichte vom Mörder Simao, der sich 40 Tage lang in der Wildnis versteckt, von Huren und Rebhühnern träumt und – schließlich von der Polizei gefunden – von der Bevölkerung seines Dorfes wie ein Held gegen alle Autoritäten gefeiert wird. Oder die Geschichte vom Hahn, der sterben soll, weil er kräht und schließlich bei der Wahl in der Gemeinde so viele Stimmen erhält, dass er der Chef im Dorf ist. Jede Geschichte hat Tiefe und Weisheit - und man will die nächste hören.

Gomes‘ sechseinhalbstündiges Werk ist fordernd, traurig, erotisch, böse, packend. Es ist die Zeit, die es fürs Betrachten braucht, wert. Bei großen Opern schaut man ja auch nicht auf die Uhr.

INFO: 1001 Nacht. D/F/POR/CH 2015. 381 Min. Von Miguel Gomes. Mit Crista Alfaiate, Goncalo Waddington.

KURIER-Wertung:

Alle Inhalte anzeigen

In "Skyfall" erlebte Daniel Craig als James Bond seinen persönlichen Tiefpunkt und das Bond-Franchise seinen absoluten Höhepunkt. Die Kritiken waren sensationell, die Einspielergebnisse fulminant. Die Latte für "Spectre" liegt hoch – und wird nicht ganz erreicht.

Nicht, dass es am Einstieg liegen würde: Regisseur Sam Mendes wollte sich in seiner Eröffnungsszene sichtlich selbst übertreffen. "Die Toten sind lebendig" heißt es gleich zu Beginn in Mexiko City, wo das Volksfest "Tag der Toten" gefeiert wird. Eine spektakulär lange Kamerafahrt, die einem Orson Welles Ehre gemacht hätte, folgt James Bond – passend zu Halloween im Skelett-Kostüm – quer durch den Karneval und mündet in einer Verfolgungsjagd. Gebäude stürzen ein, Hubschrauber greifen an – Atemlosigkeit bereits nach den ersten zehn Minuten.

Zurück in London bekommt James Bond Hausarrest – was ihn nicht davon abhält, die coolsten Gadgets aus der Bastelstube von Q "auszuborgen" und in Rom einer Witwe nachzustellen. Der Auftritt von Monica Bellucci besteht darin, dass sie sich von Bond aus dem Kleid helfen lässt – viel mehr nicht. Den größeren Frauenpart übernimmt die deutlich jüngere Léa Seydoux als Bond-Girl Madeleine Swann.

Schleudersitz

Für Connaisseure des Genres finden sich viele "Best of Bond"-Verweise – von glänzenden Vintage-Autos mit Schleudersitz bis hin zur weißen Katze. Auch für fulminante Schneeballschlachten in den österreichischen Alpen ist gesorgt (siehe Info) sowie rasanten Verfolgungsjagden zwischen Auto und Flugzeug.

Und Christoph Waltz als Bond-Bösewicht?

Hat einen überraschend kleinen Part. Sein erster Auftritt im Gegenlicht erinnert ein wenig an die Zeremonien-Szene in Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut" – allerdings ohne nackte Frauen. Er sagt "Cuckoo" zu Bond und verschwindet dann wieder für eine gute Stunde.

Die emotionale Wucht, die "Skyfall" zu dramatischem Schwergewicht verhalf, fehlt in "Spectre" und wird durch einen etwas halbherzigen Post-Freudianischen Fingerzeig ersetzt. Warum Waltz als Franz Oberhauser gegen Bond einen archaischen Hass hegt ("Ich bin der Autor all deiner Schmerzen"), bleibt ein wenig schemenhaft. Waltz ist gut, keine Frage, bekommt aber nicht genug Platz, um zu maliziöser Höchstleistung aufzufahren.Während 148 Minuten, dem bisher längsten Bond, setzt in der zweiten Hälfte trotz glanzvoller Action freudlose Erschöpfung ein. Und selbst Daniel Craig, perfekt als Bond, könnte einen Anflug von Humor vertragen.

Alle Inhalte anzeigen