Kultur

Scharfe Blicke in die Abgründe des (Wiener) Bürgertums

Léa Seydoux steckte in London bei Dreharbeiten zum neuen James-Bond-Film fest. Deswegen konnte die französische Star-Schauspielerin nicht nach Berlin reisen, um dort bei der Premiere von Benoît Jacquots Wettbewerbsfilm "Tagebuch einer Kammerzofe", in dem sie die Hauptrolle spielt, anwesend zu sein. So musste der vielseitige Veteran des französischen Autorenkinos Jacquot, dessen Drama "Lebe wohl, meine Königin!" vor drei Jahren die Berlinale eröffnete, ohne seinen weiblichen Star auskommen. Doch auch abwesend reihte sich Seydoux in die Reihe jener schillernden Heldinnen ein, die bisher den Wettbewerb der Berlinale dominieren.

In "Tagebuch einer Kammerzofe" wirft Jacquot einen scharfen Blick in die Abgründe französischer Provinzbürgerlichkeit – wie schon vor ihm Jean Renoir und Luis Buñuel, die ebenfalls den gleichnamigen Roman von Octave Mirbeau verfilmten. Er verehre die Filme von Renoir und Buñuel, beteuerte Jacquot pflichtschuldig, doch sein Film sei ein ganz anderer geworden als der seiner Vorgänger. Léa Seydoux – wie zuvor Jeanne Moreau bei Buñuel – tritt als Zofe Célestine in den Dienst eines herrschaftlichen, aber verspießten Ehepaars auf dem Land. Die Hausherrin schikaniert Célestine mit pingeligen Arbeitsaufträgen, der Hausherr erweist sich als unverschämter Grabscher.

Eine "brutale Geschichte mit sehr unangenehmen Momenten" nennt Jacquot seine elegante Satire auf das Provinzbürgertum der Jahrhundertwende, in der sich Arbeits- und Liebesverhältnisse der Moderne formieren. Die Dienstboten – durchwegs eine Art Privateigentum der Herrschaft – revanchieren sich für ihre untergeordnete Stellung mit krimineller Energie. Der treue Hausbursche Joseph – gespielt von dem immer charismatischen Vincent Lindon – erweist sich als übler Antisemit und Dieb; Célestine als seine willfährige Gefährtin.

Es sei nicht gerade ein strahlend optimistischer Film, erklärt Jacquot fröhlich, und es sei auch kein Kostümfilm aus ferner Vergangenheit, im Gegenteil: Das Leben, wie wir es heute kennen, nahm damals seinen Anfang.

Kern

Eine satirische Kritik der Gegenwart nimmt der österreichische Regisseur Peter Kern vor: Auch er analysiert den Status des (Groß-)Bürgertums, auch er stellt eine bemerkenswerte Frau ins Zentrum: In "Der letzte Sommer der Reichen", zu sehen in der "Panorama"-Reihe, nimmt Kern die Wiener Bussi-Bussi-Gesellschaft aufs Korn. Sexuelle Perversion, filzige Verflechtungen zwischen Politik, Unternehmertum und Altnazi-Geld fließen zu einer herrlich unverblümten B-Movie-Mischung aus Sex-Kolportage, Lesben-Drama und Wirtschaftskrimi zusammen. Und die schöne Amira Casar als lesbische Konzernchefin mit einer Schwäche für schwarzen Lack und Nonnen zählt sicher zu den exzentrischsten Heldinnen der Berlinale.