Popmusikerin St. Vincent: "Der Tod hat auch etwas Klärendes"
"Als masochistischen Prozess“ beschreibt Annie Clark, bekannt unter dem Künstlerpseudonym St. Vincent, die Aufnahmen zu ihrem siebenten Album „All Born Screaming“. Die 41-jährige Amerikanerin hat damit einmal mehr ein fantastisches Werk geschaffen, dass Artpop und Industrial vereint, Anleihen bei Kate Bush und Jimi Hendrix, bei Nine Inch Nails und Peter Gabriel nimmt und dabei trotzdem eine eigene Soundwelt erzeugt, die tief unter die Haut geht.
„Das mit dem masochistischen Prozess habe ich halb im Spaß gesagt, aber auch halb ernst gemeint“, erzählt sie im KURIER-Interview. „Denn ich habe dieses Album komplett alleine selbst produziert. Das ging nicht anders, weil ich wollte die Sounds, die ich in meinem Kopf hatte, rausbringen. Und das involviert, dass ich einen Song 100 Mal singe, bis ich damit zufrieden bin. Und weil ich ein anständiges Mädchen bin, würde ich nie einem Produzenten oder einem Techniker antun, das hören zu müssen.“
Dass Clark für „All Born Screaming“ fast zwei Jahre nach diesen Sounds suchte, nächtelang an den Knöpfen von modularen Synthesizern drehte, ihre E-Gitarre mit dämonischen Effekten belegte oder pulsierende Rhythmen aufbaute, liegt aber auch an der Thematik. „Ich musste in den letzten Jahren den Verlust von geliebten Menschen verkraften“, sagt sie. „Ich hatte es mit dem Tod, mit dem Leben und mit Gewalt zu tun. Zum Glück habe ich die Musik, wo ich all diese Gefühle abladen kann. Aber der Tod hat auch etwas Klärendes. Denn auf einmal kannst du dann sagen: ,Das ist wichtig und das ist nicht wichtig!’“
Auf den genauen Ursprung von Songs wie „Violent Times“, „Hell Is Near“ oder den Titelsong „All Born Screaming“ will sie nicht eingehen, um den Hörern den Freiraum für ihre eigenen Interpretationen zu lassen. Aber Clark ist überzeugt, dass diese Geschichten über sehr persönliche Erfahrungen universelle Gültigkeit haben.
„Es geht um tiefe Emotionen, um Gefühle wie den Schmerz, wenn ein geliebter Mensch nicht mehr da ist, um Depressionen und Selbsthass. Und das sind Dinge, die jeder irgendwann durchmacht. Denn so ist das Leben. Das Leben ist Leiden. Wir leiden in demselben Ausmaß, wie wir lieben. Aber am Ende des Tages sind die Liebe und Menschen, die wir lieben, das Einzige, was zählt. Deshalb ist die generelle Stimmung des Albums diese Dringlichkeit: Lass uns diese Liebe leben und das jetzt tun, denn das Leben ist kurz und die Uhr tickt – für jeden von uns.“
Auch wenn Clark für „All Born Screaming“ häufig mit Synthesizern gearbeitet hat, ist sie auch eine profilierte Gitarristin. Schon seit vielen Jahren spielt sie eine E-Gitarre, die sie selbst entworfen hat, die jetzt auch serienmäßig hergestellt wird. „Das war toll, denn viele Signature-Gitarren von anderen Musikern sind nur Abwandlungen gängiger Modelle, haben zum Beispiel andere Tonabnehmer. Wir haben die St.-Vincent-Gitarre komplett neu entworfen und ihr eine ganz neue Form gegeben.“
Noch mehr freut Clark, dass „Cruel Summer“, ein Song den Sie mit Taylor Swift geschrieben hat, voriges Jahr ein Riesenhit wurde, nachdem Swift ihn das Programm ihrer Tour eingebaut hatte.
„Das zeigt die Macht, die Fans haben. Sie haben diesen alten Song von 2019, der nie eine Single oder ein Hit war, genommen und gesagt, nein, wir mögen ihn, und haben ihn über die Sozialen Medien in die Charts gebracht. So etwas habe ich noch nie erlebt – schon gar nicht als Beteiligte.“