Spoken-Word-Album von Marianne Faithfull liefert Poesie für Chaos-Zeiten
„Marianne ist im Spital. Sie hat das Corona-Virus, und es sieht nicht gut aus!“
Diese Worte bekam der Multi-Instrumentalist Warren Ellis mitgeliefert, als ihn der Manager von Marianne Faithfull im April 2020 kontaktierte und bat, romantische Gedichte aus dem 19. Jahrhundert, die Faithfull vor ihrer Erkrankung gelesen und aufgenommen hatte, für ein Spoken-Word-Album zu vertonen.
„Er sagte, das könnte das letzte Album werden, das Marianne macht“, erinnert sich Ellis, der seit 1983 Mitglied von Nick Caves Band The Bad Seeds ist, im Interview mit dem KURIER. „Das hat mich unglaublich traurig gemacht, denn Marianne ist eine meiner besten Freundinnen“, so Ellis. „Sie war zwei Wochen im Koma, und ich wusste, dass sie auf der Palliativstation war und man sie gar nicht mehr an die Beatmungsmaschine angeschlossen hatte. In dieser Zeit begann ich, an der Musik zu dem Album zu arbeiten.“
Marianne Faithfull hat überlebt. Zwar kämpft die 74-jährige Britin, die 1964 mit dem Song „As Tears Go By“, den ihr damaliger Freund Mick Jagger mit Keith Richards geschrieben hatte, heute immer noch mit den Spätfolgen der Erkrankung. Das Album, das sie nach einem der Gedichte „She Walks In Beauty“ genannt hat, erscheint aber kommenden Freitag.
„So etwas wollte ich machen, seit ich ein Teenager war“, sagt sie. „Wir studierten die Poesie des 19. Jahrhunderts, und ich habe diese Gedichte geliebt. Aber dann kam ,As Tears Go By’ und die Tourneen, und das war ein ganz anderes Leben als das Studium der englischen Literatur der Romantik. Da hatte so ein Album keinen Platz. Außerdem war Rock damals jung, neu und interessant. Keiner von uns wusste, was er tat. Aber Aufnahmen von Rezitationen von Gedichten von Lord Byron, Shelley und Keats hatten schon so viele andere Leute gemacht.“
Warren Ellis ist trotzdem überzeugt, dass er nie eine bessere Interpretation dieser Gedichte gehört hat: „Marianne könnte auch das Telefonbuch lesen, und es würde interessant klingen! Aber wenn sie diese Texte liest, spürt man, dass sie sie lebt und absolut an das glaubt, was sie sagt.“
Aufbauend
Zwei Ziele setze sich Ellis bei der musikalischen Untermalung von Gedichten wie „To Autumn“ (John Keats), „The Bridge Of Sighs“ (Thomas Hood) oder „Ozymandias“ (Percy Bysshe Shelley): Erstens sollte es keine klassische Musik mit Harfe und Cello sein, wie es sonst bei solchen Alben oft der Fall ist. Zweitens sollte die Musik das aufbauende, erhebende Gefühl der gelesenen Texte weitertragen. So schuf Ellis für „She Walks In Beauty“ verträumte Klanglandschaften, bei denen sich schwebende Keyboards mit Klavier und elektronischen Verfremdungen vermischen und die Hörer sofort in eine andere, leichtere Welt entführen.
„Es war interessant, daran in einer Zeit zu arbeiten, in der die Welt im Chaos war“, erzählt Ellis. „Es gab nur negative Nachrichten, Wut und Schuldzuweisungen. Aber diese Texte zelebrieren die Schönheit und Wunder der Welt und der Dinge, zu denen Menschen fähig sind. Ich war dabei in meinem Studio isoliert, konnte nicht zu meiner Familie in unser Haus, denn die hatten auch alle Covid-19. In dieser Zeit wurden Mariannes Stimme und ihre Rezitationen zu Meditation.“
Auf dem Album mitgewirkt haben auch Elektronik-Pionier Brian Eno und Nick Cave als Pianist: „Nick rief mich an, wollte wissen, wie es mir im Lockdown geht und woran ich arbeite. Während wir telefonierten, schickte ich ihm ein paar Tracks. Er hörte sie sich gleich am Telefon an und sagte: ,Das ist das beste Spoken-Word-Album, das ich je gehört habe. Darf ich drauf spielen?’“