So sahen die Kritiker die Salzburger Festspiele
Zwei theatralische Neu- und Besonderheiten sind bis 2. September in Salzburg noch zu sehen: "Hamlet Cantabile" im Rahmen des Young Directors Project – das läuft aber außer Konkurrenz. Und der Festspielball in der Felsenreitschule. Der sollte den glanzvollen Abschluss der ersten Saison von Intendant Alexander Pereira bilden.
Aber waren die Festspiele 2012 selbst auch glanzvoll? Welche waren die Höhepunkte? Wo gab es die größten Enttäuschungen? Der KURIER bat langjährige Salzburg-Beobachter aus mehreren europäischen Ländern, renommierte Kritiker, um ihre Bilanz. Ein wichtiger Blick über den Tellerrand.
Auffallend ist, dass "Prinz von Homburg" oft als beste Produktion genannt wird. Und dass "Die Zauberflöte" bei vielen durchfiel.
"Länger, reicher, glamouröser, lauter" waren etwa für Eleonore Büning (FAZ) die ersten Festspiele unter dem "glänzenden Entertainer" und "Zirkusdirektor" Pereira. Gleichzeitig aber auch "zerstreuter, beliebiger und rummelplatziger".
Salzburg bildet jedoch für die meisten Experten nach wie vor die Weltspitze.
Für Ihren KURIER-Kritiker war "Ariadne auf Naxos" dank der klugen, humorvollen und dennoch tiefgründigen Fassung und Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf der Höhepunkt der Festspiele. Gute Nachricht für alle, die diesen Glücksfall einer Kombination aus Musik und Schauspiel, Musik-Theater im besten Sinn also, verpassten: Wiens Opernchef Dominique Meyer und Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst planen eine Galavorstellung der gesamten Salzburger Produktion. Die kürzere Wiener Fassung (ohne Schauspiel-Teil) kommt schon ab Dezember als Koproduktion an die Staatsoper.
Exemplarisch gestaltete sich auch die Premiere von Zimmermanns "Soldaten" –, aber solche Raritäten sind ja zumeist ein Erfolg.
Große Enttäuschungen waren die Regie der "Zauberflöte", die musikalische Nicht-Qualität von Winters "Labyrinth" sowie "Carmen" . Sängerische Entdeckungen gab es kaum. Grundsätzlich hatte man heuer das Gefühl, dass große Namen wichtiger sind als Inhalte. Erstaunlicherweise waren dennoch zahlreiche Aufführungen mit Stars nicht ausverkauft.
Renommierte europäische Kritiker über Salzburg 2012
Fast sieben Wochen werden die Festspiele am Ende gedauert haben. Sieben renommierte Kritiker bat der KURIER folgende Fragen zu beantworten:
1. Welche war die beste Aufführung der Salzburger Festspiele 2012?
2. Was war für Sie die größte Enttäuschung?
3. Haben sich Ihre Erwartungen in den neuen Intendanten Alexander Pereira erfüllt?
4. Wo steht Salzburg im internationalen Vergleich?
5. In welche Richtung sollten sich die Salzburger Festspiele künftig stärker bewegen?
Christian Merlin, Le Figaro
1. Beste Aufführung: Das Wiener Philharmoniker Konzert unter Mariss Jansons mit Nina Stemme! Von den Opernaufführungen war ich trotz individueller Glanzleistungen (Harnoncourts Dirigat, Kaufmann in "Ariadne", Netrebko in "Bohème") im Großen und Ganzen enttäuscht. Leider sah ich "Die Soldaten" nicht.
2. Größte Enttäuschung: Trotz des Kaufmann-Knüllers (er sprang an einem Abend für Piotr Beczala ein, Beczala selbst spielte auf der Bühne, Anm.) die oberflächlich inszenierte und plump dirigierte "Bohème", ganz zu schweigen von der Frage, ob "Bohème" für Salzburg geeignet ist.
3. Pereira - Erwartungen erfüllt?: Ansätze sind da, aber es ist noch etwas früh, um eine Richtlinie zu erkennen. Ich fürchte eine etwas billige, kulinarische Konsensmodernität, die das konservative Publikum nicht verscheucht, aber nichts grundsätzlich Neues bringt.
4. Internationaler Vergleich: Immer noch unter den Ranglistenersten, was die ungemein breite Palette betrifft. Aber ich muss ehrlich gestehen, dass ich in München in Sachen Musiktheater bei bescheideneren Verhältnissen nicht selten schlüssigeren und stringenteren Vorstellungen beiwohne.
5. Wohin es gehen soll: Man sollte in Salzburg das sehen, was woanders nicht gezeigt wird. Programmatisch ist die Ur-"Ariadne" – typisch für das, was man von Salzburg erwartet, auch wenn die Wiedergabe nicht ganz überzeugend war. Die Klassik modernisieren und die Modernität klassisch werden zu lassen. Und die Team-Arbeit Dirigent/Regisseur/Besetzung pflegen, lieber als mit großen Namen auftrumpfen.
Eleonore Büning, Frankfurter Allgemeine Zeitung
1. Beste Aufführung: "Prinz von Homburg" in der Lesart von Andrea Breth. Erstklassige Schauspielkunst, sogar in den Nebenrollen. Elisabeth Orth hat ja nicht viel zu sagen. Aber wie sie einmal, mit dem Rücken zum Publikum, entrüstet losprustet, als Homburg nicht aufhören will mit seinen Prahlereien, das erklärt den Bankrott dieser maskulinen Militarismuswelt.
2. Größte Enttäuschung: Mozarts "Zauberflöte" in der Lesart von Nikolaus Harnoncourt. Klar, Harnoncourt war schon immer dickköpfig und unberechenbar in seiner Tempowahl. Auch hat er sich noch nie sonderlich für seine Sänger interessiert. Aber diesmal war sein "Stop & Go"-Spiel reiner Manierismus, und bis auf die Pamina von Julia Kleiter hatte Castingdirektor Toni Gradsack offenbar nur Mittelmaß gefunden.
3. Pereira - Erwartungen erfüllt?: Ja. Leider. Pereira ist ein glänzender Entertainer und ein leidenschaftlicher Zirkusdirektor. Wie erwartet hat er die Salzburger Festspiele länger, reicher, glamouröser, lauter, zerstreuter, beliebiger und rummelplatziger gemacht.
4. Internationaler Vergleich: Die Salzburger Festspiele stehen an erster Stelle. Es gibt diese erstaunlich lange und große Tradition von innovativen Ideen und maßstäblichen Performances – dieser Ruf ist haltbar genug, um auch mal eine flache Spielzeit zu überstehen.
5. Wohin es gehen soll: Sinnstiftung muss wieder her, eine Festival-Seele.
Die Salzburger Festspiele kamen mir im Sommer 2012 so prasserisch-armselig vor wie der Jedermann im "Jedermann". Was fehlte, waren die guten Werke.
Flaminia Bussotti, italienische Nachrichtenagentur Ansa
1. Beste Aufführung: "Ariadne auf Naxos".
2. Größte Enttäuschung: "Die Zauberflöte".
3. Pereira - Erwartungen erfüllt? Ich finde, er hat geliefert, was man von ihm erwartet hat: ein Festival der Superlative. Große Namen und große Resonanz, aber nicht unbedingt von großer Originalität und auch kein Wagnis.
4. Internationaler Vergleich: Salzburg ist top. Egal, ob man hier und dort etwas vermissen oder kritisieren mag – dieses Festival bleibt, was Anziehungskraft, technischen Aufwand, Professionalität und lebendige Tradition betrifft, weltweit die Nummer 1.
5. Wohin es gehen soll: Mehr Mut, mehr Experimentierfreude, ein klareres Gestaltungskonzept. Nicht nur auf Stars pochen, Salzburg darf nicht Hollywood werden! Das wäre definitiv nicht im Sinne seiner Gründer Hofmannsthal & Co. Auch die verlängerte Dauer muss nicht sein, ebenso wenig der Ball:
Less is more!
Christian Berzins, Aargauer Zeitung; Weltwoche
1. Beste Aufführung: "Der Prinz von Homburg."
2. Größte Enttäuschung: "Die Zauberflöte", obwohl "Das Labyrinth" in allen Belangen schlechter war: Aber die Fallhöhe war nicht groß.
3. Pereira - Erwartungen erfüllt? Erfüllt ist das falsche Wort. Den Erwartungen wurde aber entsprochen. Pereira bot einen guten dramaturgischen Mix, lenkte klug davon ab, dass es ihm vor allem darum ging, Kasse zu machen. Aber die Mischung aus Risiko und Berechnung ist in Ordnung. "Soldaten", "Labyrinth", "Ariadne" hier, "Zauberflöte", "Carmen", "Giulio Cesare" und "Bohème" da – warum nicht? Allerdings hätte ich gedacht, dass er viel mehr dafür tun würde, dass die Eröffnungspremiere ("Zauberflöte") ein Erfolg werden würde. "Nur" Harnoncourt reichte dazu aber nicht.
4.Internationaler Vergleich: Sie stehen sehr gut da. Wo gibt es diese Mischung (trotz einzelner Abstriche) von Top-Schauspiel, Top-Oper und Top-Konzerten? Baut Pereira allerdings weiterhin so stark auf seine Zürcher Sänger und Regisseure, wird es schwierig sein, das Top-Niveau musikalisch zu halten. Man merkt dem Festival die "Alte Schule" zu fest an.
5. Wohin es gehen soll: Die Salzburger Festspielen werden von einem Intendanten jeweils ein paar Zentimeter nach rechts, dann wieder nach links bewegt, im Innern bleiben sie gleich (großartig). Deswegen sollen die Spielstätten gut gepflegt werden – und ebenso das fixe Kapital, die Wiener Philharmoniker. Der Rest ergibt sich dank der Anziehungskraft von alleine. Pereiras irre Idee, alles noch größer, noch besser zu machen, wird den Festspielen in den nächsten vier Jahren arg zusetzen. Doch danach sieht es gut aus, in der Schweiz wartet der ideale Nachfolger: Michael Haefliger würde die Festspiele wieder zu Spielen des Geistes und nicht des Geldes machen, obwohl auch er ein Meister im Sponsoren-Sammeln ist (er holt für sein "Lucerne Festival" pro Jahr genauso viele Millionen herein wie Pereira einst für die Zürcher Oper, nur hängt er es nie an die große Glocke).
Wolfram Goertz, Rheinische Post, freier Autor für Die Zeit
1. Beste Aufführung: "Peer Gynt" in der Version von Irina Brook auf der Perner-Insel.
2. Größte Enttäuschung: Peter von Winters "Das Labyrinth".
3. Pereira - Erwartungen erfüllt? Wenn ein Pereira kommt, ist klar, wohin die Reise geht. Also sollte man keine Erwartungen in ihn hegen, die er sowieso nicht erfüllen kann. Also klare Antwort: Ja!
4. Internationaler Vergleich: Immer noch in der Spitzengruppe, muss aber darauf achten, nicht in die Beliebigkeit abzurutschen.
5. Wohin es gehen soll: Weg von der reinen Kulinarik!
Heinz Sichrovsky, news
1. Beste Aufführung: "Die Soldaten" und "Der Prinz von Homburg". Beiden ist das umfassend Unprovinzielle gemeinsam, in diesem Sommer überraschenderweise keine Selbstverständlichkeit.
2. Größte Enttäuschung: Das Konzertprogramm. Ausnahme: die so weit geglückte "Ouverture Spirituelle" mit der fälligen Heimholung Buchbinders und Hampsons. Die Faszination und stringente Intellektualität vergangener Jahre konnte nicht im Entferntesten erreicht werden, selbst für bedeutsame Ereignisse (Barenboims Schubert-Zyklus) wurden infolge der Überprogrammierung riesige Kartenkontingente verschenkt.
3. Pereira - Erwartungen erfüllt? Ja, präzise. Ich habe erwartet, dass es bunt, hochkarätig und etwas beliebig wird.
4. Internationaler Vergleich: Ganz oben. Es gibt nach wie vor kein internationales Festival, das in solchem Ausmaß die Weltelite zu binden vermöchte. Bayreuth z. B. nimmt man, von Thielemann abgesehen, nur noch wegen tätowierter Russen und haarsträubend provinzieller Regisseure wahr.
5. Wohin es gehen soll: Spektakel nur, wo sie mit Qualität vereinbar sind; sorgsamere Konstellationen wie einst Harnoncourt/Kušej oder Salonen/Marthaler und heuer, immerhin, Metzmacher/Hermanis. Stärkere Obacht, was die Spielklasse der Regisseure und Dirigenten betrifft.
Franz Zoglauer, ATV
1. Beste Aufführung: "Ariadne auf Naxos" als kunstvolles Gesamtkunstwerk ganz im Sinn der Festspielgründer. Mit unverwechselbar österreichischem Idiom von Sven-Eric Bechtolf überaus sensibel in Szene gesetzt, mit tollen Schauspielern und Sängern, allen voran Cornelius Obonya und Jonas Kaufmann.
2. Größte Enttäuschung: Die szenische Umsetzung der "Zauberflöte" von Jens Daniel Herzog. Platte, schwerfällige und langweilige Bilder aus der Welt von Harry Potter, Twilight und Matrix. Mozarts geheimnisumwitterte und humorvolle Welt war nur in der Musik spürbar.
3. Pereira - Erwartungen erfüllt? Das Angebot war viel zu umfangreich und – was den musikalischen Bereich betrifft – oft zu beliebig. Große Namen sind zwar für Salzburg unerlässlich, jedoch noch kein Programm. Weniger wäre mehr gewesen. Aufführungen wie "Der Prinz von Homburg" oder Zimmermanns "Die Soldaten" sind festspielwürdig und bleiben in Erinnerung.
4. Internationaler Vergleich: Salzburg muss sich von der Flut von Festivals unterscheiden. Konkurrenzlos sind die Festspiele derzeit vor allem bei den Spitzenpreisen der Eintrittskarten, und sie werden danach auch beurteilt. Von Salzburg erwartet man sich zu Recht allerhöchste Qualität.
5. Wohin es gehen soll: Das Festival sollte abspecken und sowohl von den Spielort en als auch vom Spielplan das Unverwechselbare spürbar machen. Wer eine "Ouverture Spirituelle" anbietet, dürfte auch vor einer Kirchenoper nicht zurückschrecken. Cavalieris "Rappresentatione di anima e di Corpo" war einst so erfolgreich wie der "Jedermann".
INFO
Servus TV sendet am 30. August (21.15) "Talk im Hangar 7" über die Festspiele 2012. Unter der Leitung von Ioan Holender diskutieren Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf, Peter de Caluwe (Intendant La Monnaie/ Brüssel , Opernhaus des Jahres), Edda Moser (legendäre Sopranistin) und KURIER-Kulturchef Gert Korentschnig.
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