"Red Dead Redemption 2": Games lassen die andere Kultur alt aussehen
Von Georg Leyrer
Man kann, wenn man will, auch einfach nur rumsitzen. Mit Cowboyhut und Reiterstiefeln bestückt ins Lagerfeuer starren, einen Fisch fangen oder den Sternenhimmel ansehen.
Wann konnte, wann durfte man das schon bei einem Kulturprodukt?
Die sogenannten „Open World“-Games sind auf dem Weg, ein Grundversprechen von Film, Literatur, auch vom Gesamtkunstwerk Oper einzulösen: Das völlige, streckenweise zweckfreie Eintauchen in eine Welt, in einen Charakter und eine Story. Man arbeitet, etwa beim nun erschienenen Western-Game „Red Dead Redemption“ (RDR2), mit anderen Maßstäben als der Rest der Kultur: 60 Stunden dauert alleine das Absolvieren der Haupthandlung; da ist man durch 30 Westernfilme durch oder wahrscheinlich auch als Leser durch den gesamten Karl May. Im Spiel selbst kann man aber Hunderte Stunden verbringen.
Zauberzahlenwerk
RDR2 erweitert auch andere Grenzen – nämlich jene des schieren Aufwands in der Kulturproduktion. Längst ist die Spielebranche größer als Hollywood. Die Marketingmaschinerie von Rockstar Games kann bei RDR2 mit allerlei Zauberzahlenwerk beeindrucken: Es wurde ein Aufwand betrieben, der sich nirgends anders auch nur annähernd wiederholt, nicht einmal im Serienfernsehen.
Acht Jahre wurde an dem Spiel gearbeitet. Und zumindest in der späteren Produktionsphase von einer nicht gerade kleinen Truppe: Bis zu 1000 Personen waren in Spitzenzeiten involviert. Schauspieler, Musiker, Designer, Architekten, natürlich Programmierer. Zur Deadline lief die Maschine so heiß, dass das Erscheinen des Spiels von unschönen Gerüchten über 100-Stunden-Arbeitswochen begleitet wurde. Wie viel die Produktion insgesamt gekostet hat, ist noch nicht offiziell bekannt. Aber man kann davon ausgehen, dass der bisher größte Erfolg aus dem eigenen Haus, „ Grand Theft Auto 5“, noch übertroffen wurde.
Das umstrittene Kultgame kostete 265 Millionen Dollar. Eine gute Investition. Denn GTA5 ist das bisher profitabelste Kulturprodukt überhaupt. Sechs Milliarden Dollar wurden mit dem Spiel seit 2013 eingenommen, mehr als mit jedem „ Star Wars“- oder Superheldenfilm. Für die erste Milliarde brauchte man drei Tage.
RDR2 ist auf gutem Weg, da mitzuhalten: In den ersten drei Tagen nach Verkaufsstart nahm das Spiel 725 Millionen Dollar ein, hieß es am Dienstagabend.
Technikporno
„RDR2“ ist jedenfalls ein neuer Höhepunkt in der Machtdemonstration einer Kulturbranche, die ironischerweise immer noch mit Renommeeschwierigkeiten kämpft. Die begleitende Technikpornosprache – bei neuen Spielen ist die Grafik immer fließender, das Gameplay schneller, die Welt größer – hat derartige Spiele lange in eine bestimmte Blase eingeschlossen: Auf diese rekordbegeisterte Art würde kaum jemand über Filme, Oper oder Popmusik sprechen. Und sie verstellt den Blick auf das, was sich RDR2 anschickt zu sein: Ein Machbarkeitsnachweis darüber, wohin die Unterhaltungsbranche gehen wird. Dabei ist es sogar fast nebensächlich, ob dieses Spiel jetzt im Erleben so toll ist, wie viele Kritiken nahelegen: Andere populäre Kulturformen drohen gegenüber derartigen Großproduktionen ins Hintertreffen zu geraten.