Punktesammeln auf dem „Moralkonto“
Von Rudolf Mitlöhner
Das hier verhandelte Phänomen ist unter verschiedenen Namen geläufig – von „political correctness“ über „cancel culture“ bis „Wokeismus“. Philipp Hübl, Philosoph und Kulturwissenschafter, führt nun den Begriff „Moralspektakel“ ein. Darin steckt schon im Kern seine Grundthese: Inszenierte Moral, Moral als bloße Show läuft ins Leere und macht die Welt nicht besser. Hübl ortet einen Hang zu „Populismus, wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung, vorschnellen Gesetzen und Scheindebatten“.
Sein positiver Gegenbegriff lautet „Vernunftmoral“. Die sei freilich „anstrengend“, könne „Entbehrungen und Verhaltensänderungen erfordern“, man braucht dafür „empirische Daten und gute Argumente“.
Diese Vernunftmoral hat es freilich unter gegenwärtigen Rahmenbedingungen noch einmal deutlich schwerer: „Unser Statusspiel kann sich in der digitalen Welt prächtig entfalten“, schreibt der Autor, man habe die Möglichkeit, sich „fast kostenlos auf allen Prestigeebenen darzustellen“ und „möglichst viele Punkte auf unserem Moralkonto zu sammeln“.
Wer möchte dem widersprechen? Den Ursprung des „Moralspektakels“ sieht Hübl bereits in der Natur des Menschen angelegt– im Streben nach Anerkennung und Respekt, auch um (sexuelle) Attraktivität. Moral habe eine „zentrale Rolle in der sexuellen Selektion gespielt“ – insbesondere mit Blick auf langfristige Bindungen.
Effekthascherei
Alles in allem ist Hübls Buch ein gut zu lesender, teilweise etwas redundanter Rundgang durch die einschlägigen aktuellen Diskurse. Die Mechanismen von Diskurshoheit, Ausgrenzung, Selbststilisierung werden präzise analysiert.
Anders als man vielleicht erwarten würde, sieht er indes die Veranstalter des Moralspektakels nicht nur aufseiten der Linken: Auch wenn sich der Vorwurf des Moralismus meist gegen „progressive Positionen“ richte, werde „tatsächlich jede moralische Äußerung zur Effekthascherei“ benutzt – je nachdem, welche Werte „man als zentral für die eigene Identität ansieht“.
Am schwächsten ist das Buch vielleicht am Schluss, wo der Autor Vorschläge präsentiert, „was man gegen das Moralspektakel tun kann, um sich für eine universelle Ethik und für echte Gerechtigkeit einzusetzen“. Nicht weil diese falsch wären, sondern weil sie Selbstverständliches benennen, das freilich im wirklichen Leben nicht selbstverständlich ist. Oder: alles wäre kein Problem, wenn der Mensch anständig, maßvoll und vernünftig wäre.