Kultur

Paul Auster und sein Roman zur Krise

Miles Heller arbeitet beim Entrümpelungstrupp einer Immobiliengesellschaft, die "Hauspflege-Dienste" für Banken anbietet. Heller, in früherem Leben reicher Verlegersohn, räumt die verlassenen Häuser von Familien aus, die krisenbedingt in kleinere Behausungen zogen. Und auf der Flucht vor ihrer Scham ihre Flachbildfernseher zurückgelassen haben. "Die weiten Ebenen Südfloridas sind übersät mit diesen verwaisten Bauten..."

Die Krise hat Nordamerika fest im Griff, und Paul Auster legt mit "Sunset Park" den passenden Roman vor.

Roman zur Krise

Wie immer bei Auster ist die Story vollgepackt mit spektakulären Wendungen.
Da ist ein ungleiches Brüderpaar, bei einer Rangelei stößt der eine den anderen vor ein Auto. Ob er es absichtlich getan hat, weiß er selber nicht. Ab jetzt nennt er sich Einzelkind und verlässt sein Leben: Miles Heller, 28, einst vielversprechender Student, wird zum Mann vom Entrümpelungsdienst, der alle Sozialkontakte abbricht. Und nur für eine eine Siebzehnjährige da ist, für die er so gut wie alles tut, weil sie so intelligent ist. Er hat sich in sie verliebt, weil sie "Der große Gatsby" las.

Wenig später ist der Verlegersohn alias Brudererschläger alias Mann vom Entrümpelungsdienst auf der Flucht. Das Verhältnis mit der Minderjährigen könnte ihn ins Gefängnis bringen. Von Florida reist er nach New York, nach "Sunset Park", Brooklyn, wo er die Fährte seines alten Lebens wieder aufnimmt.

Versatzstücke

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Am Ende ist "Sunset Park" eine krisengefärbte Variante der Erzählung von der unglücklichen Familie. Davon dass der Kitt, der uns zusammenhält, nicht ewig hält. Keine schlechte Erzählung, die meisten Romane handeln mehr oder weniger davon. Doch diese Geschichte wirkt wie vom Reißbrett. Das Jonglieren mit Versatzstücken aus dem Literaturbaukasten beherrscht Auster gut.

Die Volten, die Auster-Geschichten schlagen, sind stets spektakulär. Hier sind sie spekulativ: Aus Angst, schwanger zu werden, will Miles’ Siebzehnjährige nur Analsex mit ihrem Wohltäter. "Das Mamaloch sei tabu, sagte sie. Absolutes Sperrgebiet für männliche Glieder." Ansonsten ist die Frau mit dem interessanten Wortschatz hochintelligent und bereitet sich aufs College vor. Die fragwürdige Verhütungstechnik des Paares bringt die Story allerdings nicht weiter.
Für alle Fälle packt Auster den Bedeutungshammer aus: "... wie der Dichter Homer, von dem die Szene mit Odysseus und Telemach stammt, Vater und Sohn endlich wieder vereint nach so vielen Jahren, genau wie er und sein Vater jetzt wieder vereint sind". Nur, falls jemand nicht kapiert hätte, dass Vater und Sohn es in den vergangenen Jahren recht schwierig hatten ...

Der Autor scheint der eigenen Vater-Sohn-Geschichte selber nicht zu vertrauen. So bläst er sie mit Füllmaterial auf. Baseballer-Hagiografien und bedeutungsbeladene Grübeleien einer Literaturstudentin. Bloß: Wenn die Geschichte nicht einmal den Autor interessiert, warum soll man sie dann lesen?
14 Romane hat der Geschichtenerzähler aus Brooklyn veröffentlicht, dazu Gedichtbände, Essays, Drehbücher, Songs. Er sei "vom Schreiben besessen", erzählte Auster anlässlich seines 65. Geburtstags im Februar.
Er soll weitermachen. "Sunset Park" ist, gemessen an Vorgängerwerken, nicht mehr als eine Fingerübung.

KURIER-Wertung: *** von *****

Frances Greenslade: "Der Duft des Regens"

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Dieser Titel führt in die Irre. "Der Duft des Regens" klingt nach Rosamunde Pilcher. Doch Frances Greenslades Roman über das Aufwachsen am Rande der kanadischen Wildnis ist das Gegenteil von Pilcher.
Im Original heißt das Buch "Shelter". Das bedeutet Zuflucht. Unterschlupf. Schutz. Das haben Maggie und Jenny Dillon nicht.

Nicht mehr.

Die Schwestern sind zu Beginn der Geschichte, Ende der 60er-Jahre, Kinder. Maggie, die Jüngere, ist schon da kein unbekümmertes Mädchen. Sie ist die "Sorgenmacherin", ein Kind, dem die Angst, den von ihr Geliebten könne etwas zustoßen, die Brust einschnürt wie eine Schlinge aus Metall. "Sorgen waren in jede Ritze rund um mein Herz gestopft wie Zeitungspapier in die Ritzen einer Hüttenwand."

Die Sorgen sind berechtigt. Die Mädchen werden viel verlieren und schnell erwachsen werden müssen. Zuerst den Vater, dann die Mutter gehen sehen.

In den prächtigen Wäldern im Westen Kanadas sind sie daheim, wo die Straßen Namen wie "Freedom Road" tragen. In einem Haus, "von Leuten gebaut, die nicht bleiben wollten". Dünne Wände, ein schimmelnder Linoleumboden und der Geruch von Hackfleisch in den Vorhängen.

Geheimnisvoll

Trotzdem gibt es für die Kinder etwas wie Geborgenheit. Wenn Maggie mit dem Vater, einem Holzfäller, im Wald eine Hütte baut. Wenn "Mom" Maggies Katze rettet. Einer der letzten Augenblicke mütterlicher Zuwendung. Die geheimnisvolle Mutter Irene, nur wenige Jahre älter als ihre Töchter, eine Frau, die "keine Angst vor Bären" hat. Eine hübsche Rothaarige mit schlanken Beinen. Nach dem Unfalltod ihres Mannes verschwindet auch sie nach und nach aus dem Leben ihrer Töchter. Schreibt den Mädchen, die ­ ­ bei einer mürrischen Bekannten Unterschlupf finden, Briefe, die immer seltener werden und eines Tages ganz ausbleiben.

Frances Greenslades Roman ist eine atmosphärisch dichte Erzählung – tatsächlich "duftet" es viel in diesem Buch – doch kein Wort ist hier zu viel. Als Maggie nach Jahren in das verlassene Haus ihrer Familie zurückkehrt, riecht sie noch einen Hauch des Lippenstifts ihrer Mutter, ein trauriger Nachklang.

Frances Greenslade, geboren 1961 in Ontario, lehrt Englisch in British Columbia. Mit "Der Duft des Regens" legt sie ein klug erzählte s Romandebüt vor. Eine intensive Erzählung, die lange im Gedächtnis bleibt.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Auch Tai-Chi half dem Werwolf nicht

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Vor zwei Nächten hat er einen dreiundvierzigjährigen Hedge-Fonds-Spezialisten gefressen. "Ich bin jetzt in der Lebensphase, wo ich diejenigen reiße, die keiner mehr haben will."

Der Ich-Erzähler in Glen Duncans "Der Letzte Werwolf" ist schon viel zu lange – 200 Jahre – auf der Welt. Er hat es satt. Wenn sogar Menschen heutzutage mehrere Midlife-Krisen erleben – was glauben Sie, wie es einem mittelalterlichen Werwolf geht? Massive Sinnkrise!

"Eine Haltung nach der anderen hab’ ich verschlissen: Hedonismus, Askese, Spontaneität, Nachdenklichkeit, alles vom elenden Sokrates bis zum glücklichen Schwein ...", nützt alles nichts, "... ich will einfach kein Leben mehr."

Neulich wurde Jake Marlowe – des Werwolfs bürgerlicher Name – gefragt, wie lange Werwölfe leben. Angeblich vierhundert Jahre. "Ich weiß nur nicht, wie. Natürlich setzt man sich Ziele – Sanskrit, Kant, Infinitesimalrechnung, Tai-Chi –, aber damit beantwortet man ja nur die Frage nach der Zeit. Die größere Frage, die nach dem Sein, wird dabei nur noch größer."

Vampire haben’s da schon leichter, die können hin und wieder mit völliger Starre spielen. Aber als Werwolf ... Sex interessiert ihn nicht mehr, Literatur auch nicht, und nun kommen auch noch die Erinnerungen an die Opfer zurück.

Tot und verdaut

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Und dann geht’s ans Eingemachte. Kapitel fünfzig beginnt mit den Worten: "Das Blut auf diesen Seiten ist meines." Der angeblich letzte Werwolf erfährt, dass es noch eine Werwölfin gibt. "Mein ganzes Ich landete flach vor ihren Füßen, all meine verdauten Toten verstummten schockiert."

Glen Duncan, geboren 1965 in Bolton unweit von Manchester, führt mit seiner Werwolf-Leidensgeschichte in einen sympathischen Horror-Kosmos. Blutrünstig philosophisch.

Duncan, studierter Philosoph, hat etwas, das nicht viele Künstler haben: Selbstironie. Er macht sich über seinen Geschäftssinn lustig. Sieben Bücher hatte er vor dem Werwolf-Buch geschrieben, alle kein Erfolg. Da sagte sein Agent: "Noch so ein Buch, und ich finde keinen Verleger mehr für dich." – "Ich beschloss also, endlich einen Page-Turner zu schreiben, ein Erfolgsbuch. Keine absurden Ideen. Aber es kam anders. Ich finde Liebe, Sex und Gewalt einfach sehr interessant."

KURIER-Wertung: **** von *****