Olga Neuwirth über Staatsopern-Uraufführung: "Bin noch kein toter Komponist"
Von Andrea Blum
„Wir sind in einem großen Haus - also geben wir ein großes Statement ab“, sagt Olga Neuwirth. Ihre Oper „Orlando“ ist ein großes Projekt - und groß ist auch die Aufregung im Vorfeld. Um den vielen Medienanfragen einigermaßen nachkommen zu können, gab es am Dienstagnachmittag in der Wiener Staatsoper ein Round-Table-Gespräch mit der Komponistin und dem Uraufführungsdirigenten Matthias Pintscher.
Die Tatsache, dass am Sonntag (8. Dezember) zum ersten Mal in der 150-jährigen Geschichte eine abendfüllende von einer Frau komponierte Oper im Haus am Ring zur Aufführung kommt, hat der britische „Guardian“ im Vorfeld besonders hervorgehoben. „Es ist nie zu spät!“, kommentiert die 51-jährige, in Graz geborene und in Berlin lebende Komponistin, dass dieser beschämende Zustand erst jetzt ein Ende findet. „Die ehrwürdige Institution der Staatsoper hat zwei Seiten: Das eine ist eine Geschichte des wunderbaren Musikmachens, das andere ist eine Geschichte der Erstarrung.“
Diese Verkrustungen werden durch Neuwirths Werk und ihr beharrliches Insistieren, bei der Uraufführung ihre Vorstellungen bestmöglich umzusetzen, gehörig aufgebrochen. Manche Kruste rührt jedoch auch von einer 15 Jahre alten Verletzung her - der Absage des Opernprojekts „Der Fall Hans W.“ von Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek. „Es ist der zweite Start mit der Staatsoper, 2013 habe ich den Auftrag bekommen. Nachdem ich durch den ersten gescheiterten Anlauf meine Librettistin verloren hatte, habe ich mich nun für jenes Werk entschieden, das ich als 15-Jährige in einem kleinen Kaff an der slowenischen Grenze gelesen habe und mich schon damals sehr beeindruckt hat“, sagt Neuwirth: „Als es zu einem zweiten Anlauf kam, war für mich also klar, dass es dieses Sujet wird.“
Es handelt sich um den 1928 erschienenen Roman „Orlando - eine Biographie“, in dem die Hauptperson nicht nur Jahrhunderte nahezu ohne zu altern überdauert, sondern auch zwischendurch das Geschlecht wechselt. „Virginia Woolfs visionärer Roman um ein Wesen zwischen Fiktion und Realität, ein Wesen, das die Normen der Gesellschaft in allen Perioden hinterfragt, ist ein Teil meiner Geschichte geworden: Es geht um einen Menschen, der sich in keine Normen pressen lässt.“
Neuwirth lässt keinen Zweifel, dass sie sich in der Vorlage, aus der sie mit Catherine Filloux auch selbst das Libretto gemacht hat, stark wiederfindet: „Orlando ist ein Wesen, das alle aufoktroyierten Normen infrage stellt oder nicht anerkennt, mit den Normen umgeht, aber sie verändert und neu denkt. Sie lässt sich in keine eindeutigen binären Systeme einzwängen, sie wird aus sich heraus ein Wesen, das selbstbestimmt ist - ein Freigeist mit sprudelnder und überbordender Freiheit, was die Voraussetzung für Demokratie ist. Es geht um die freie Meinungsäußerung des Menschen und um Fluid Identity. Es gibt keine festen Normen, weder in der Kunst noch im Leben.“
Der Schnelldurchlauf durch die Jahrhunderte wird von Neuwirth bis in die Gegenwart weitergeführt. Natürlich ist es auch eine Auseinandersetzung mit vier Jahrhunderten Musikgeschichte. „Es gibt viele Anspielungen und verzerrte echte und unechte Zitate, die sich auf alle Ebenen der Musik abspielen. Man wird viele erkennen und viele nicht erkennen“, sagt die Komponistin, und der Dirigent ergänzt: „Raum und Zeit sind für Olga sehr wichtig. Am Anfang taucht man ganz gemach in die Renaissance ein. Es ist ein Reisestück der Überraschungen. Es lädt auch ein, einen Umweg zu nehmen in unbekannte Territorien.“
Das gilt auch für die Staatsoper, die mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert wird. „Das Stück verlangt von seinem Konzept her, dass alle Beteiligten über ihren Schatten springen, denn das ist das Thema von 'Orlando'. Alle Abteilungen müssen aus ihrer Komfortzone raus - das fällt manchen schwerer und manchen leichter“, sagt die Komponistin. „Eine kleine Anekdote zeigt, was ich meine: Jemand kam auf mich zu und sagte: 'Frau Neuwirth, Sie wissen, erstmals müssen hier alle Departements miteinander kommunizieren. Das ist eine Art von Psychoanalyse.' Das freut mich - denn dann hätte ich etwas erreicht.“
Vor allem die musikalischen Proben sollen ein Kraftakt sein, hat man in den vergangenen Tagen gehört, schließlich verlangt Neuwirth vom Staatsopernorchester Dinge, die musikalische Gewohnheiten radikal infrage stellen - inklusive absichtlicher Verstimmung von Instrumenten. „Die Verzerrung ist ein Stilmittel, das sich auf allen Ebenen des Musiktheaters auswirken soll“, sagt die Komponistin und betont ihre Zurückhaltung bei den intensiv von ihr wahrgenommenen Proben: „Ich mische mich nur ein, wenn zu weit gegangen wird - wenn der Punkt erreicht ist, dass ich mir denke, dass das gar nichts mehr mit mir zu tun hat.“
Umso enger ist jedoch der Austausch mit dem Komponistenkollegen und Dirigenten Pintscher, mit den sie fast ein Vierteljahrhundert Bekanntschaft verbindet. „Wir sitzen jeden Tag zusammen und lassen den Tag gemeinsam ausklingen und reflektieren die Dinge - in einer wunderbar leichten und intensiven Form“, erzählt dieser und lobt die gewaltigen Anstrengungen des ganzen Hauses. „Es ist ein unglaublich spannendes Abenteuer für alle Beteiligten.“
Bleibt noch die Frage nach der szenischen Umsetzung, schließlich ist „Orlando“ für Neuwirth „keine übliche Oper, ich nenne es opera performance“. Mit dem Regiewechsel von Karoline Gruber auf Polly Graham habe sie nichts zu tun, versichert die Komponistin, die aber konkrete Vorstellungen für die idealen Bedingungen hat, unter denen sich ihr „Orlando“ voll entfalten könnte: „Meine Musik braucht Raum, damit sie atmen kann - deswegen wollte ich kein starres Bühnenbild. Alles dazu steht in der Partitur. Ich war immer fasziniert von der Illusion des Raumes, der künstlichen Weite und Tiefe - deswegen hat mich das Barocktheater mit seinen Soffitten immer beschäftigt. Ich habe sechs moderne Versionen von Soffitten gewählt: Sie sind sechs riesige Videopaneele. Diese können ständig hin und hergeschoben und in unterschiedliche Konstellationen gebracht werden.“
„Die Grundidee war, eine Grand Opera als Fusion aus Musik, Text, Video und Kostümen zu schaffen“, erläutert Neuwirth. „Ich habe selbst Film und Malerei studiert - das ist ein Teil meines Hirns. Ich kann nur in das Vorwort der Partitur schreiben, was meine Musik erfahrungsgemäß braucht. Ich kann nur sagen: Ich bin noch kein toter Komponist! Solange ich lebe, nehme ich mir das Recht, etwas zu sagen.“ Aus ihrer Erfahrung weiß sie: „Die Musik und die Figuren brauchen Raum.“ Das gilt auch für die Kostüme, die von der Gründerin des Modelabels Comme des garcons stammen: „Die skulpturalen Kostüme von Rei Kawakubo scheinen meine Musik gechannelt zu haben, sie sind die Abbildung meiner Musik auf einer anderen Ebene. Die Kostüme sind übertriebene Silhouetten, die auch Raum brauchen.“
Am Ende des über einstündigen Mediengesprächs ist zumindest eines ganz klar: Der dreistündige Abend mit zweieinhalb Stunden Spieldauer (erstmals gibt es eine Pause in einem Musiktheater von Olga Neuwirth) wird eine hoch komplexe Angelegenheit. Befürchtungen, das normale Opernpublikum könne damit überfordert sein, versucht Neuwirth zu zerstreuen: „Ich mache ein Angebot. Ich komme nicht mit dem Holzhammer, ich sage nicht: Sie müssen das verstehen! Es ist sehr dicht. Ein komplexer, großer Aufwand. Aber die Welt ist auch ein großer Aufwand.“ - „Verstehen kann man das Stück nicht“, ergänzt Dirigent Pintscher. „Aber man kann auch eine Sinfonie von Franz Schubert oder ein Bild von Mark Rothko nicht verstehen.“