Kultur

Neuer Irving: Er konnte nicht "Penis" sagen

Als ihm Everett, sein damals 18-jähriger Sohn, sagte, er sei schwul, antwortete John Irving:

"Ich habe dich deshalb noch mehr lieb ..." Wieso mehr? "Weil er eine härtere Zeit haben wird, und er sollte wissen, wie stolz ich auf ihn bin und wie sehr ich ihn liebe, so wie er ist."

Dann schrieb Irving weiter an seinem 13. Roman "In einer Person" über Billy, der es noch schwerer hatte, als er in den 1950ern in der amerikanischen Kleinststadt First Sister (Vermont) aufwuchs.

Nicht wegen des kleinen Sprachfehlers: Billy konnte nicht "Penis" sagen. Bei ihm hörte es sich nach Penith an. "Die Penisse", sagte seine Trainerin damals, "wirst du ja nicht so oft in den Mund nehmen."

Naja.

Billy ist bisexuell; verdächtig bei Mann und Frau.

Der Schulpsychologe will ihn "heilen" ...

Bei John Irving stand, wie immer, der letzte Absatz zu allererst fest:

"Mein lieber Junge, bitte stecke mich nicht in eine Schublade. Ordne mich nirgends ein, bevor du mich überhaupt kennst ..."

Shakespeare

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Etwas ist anders. Es gibt keine Nebenhandlungen. Aber viel Shakespeare: Ob Luftgeist Arel weiblich oder männlich ist, wird diskutiert.

Dass man in einer Person viele Menschen spielt, und keiner zufrieden ist (König Richard III.).

Billy spielte in der Theatergruppe mit. Sein Stiefvater führte Regie. Der Opa übernahm die Frauenrollen. Gern. Im Altersheim wird er später ebenfalls mit Kleid sitzen. Billies verschwundener leiblicher Vater war auch nicht gerade ein Frauenheld.

Vielen Heteros begegnet man in diesem Roman nicht. Auch wird der äußerst selbstbewusste 17-jährige Billy, der sich outet, selten verspottet oder beschimpft.

Ist das glaubwürdig? Vor 50 Jahren in der amerikanischen Provinz?

"In einer Person" ist ein Erinnerungsbuch: Aus Billy wurde der berühmte Schriftsteller William Abbott, und als fast 70-Jähriger erzählt er sein ziemlich erotisches und wegen Aids trauriges Leben bis in die Gegenwart.

Erfreulicherweise kommen viele Ringer vor, Bären nur sehr am Rande. Aber Wien, Mitte der 60er-Jahre, spielt mit, eine Opernsängerin, die zu Billys Freude nur anal will; und Homosexuelle tragen – wie in New York – ein blaues Tuch in der linken Gesäßtasche, als Signal der Bereitschaft.

Nah an "Garp" und "Owen Meany" ist der Roman gebaut. Aber etwas ist anders: Man legt John Irving während des Lesens erstmals beiseite – und vergisst ihn für einige Zeit. Vielleicht, weil er diesmal so überdeutlich die Botschaft der Toleranz bringt.

Man denke nur an Roberta, Garps transsexuelle Freundin, die früher Footballspieler war. Nur eine Nebenrolle, aber eine starke Waffe gegen Vorurteile.

John Irving wird eh gleich wieder reumütig zur Hand genommen, denn es gibt wieder eine Roberta! Zwar sagen alle nur Miss Frost zu ihr, aber sie heißt Roberta.

Und ist die Bibliothekarin der Schule. Roberta hilft Billy, sich sexuell zu orientieren. Eine großartige, mit 1,90 m sogar große Romanfigur.

Und eine anbetungswürdige Frau – ganz egal, dass sie früher der beste Ringkämpfer der Schule war.

KURIER-Wertung: **** von *****

Vladimir Sorokins - "Schneesturm"

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Er ist als Systemkritiker bekannt. Das Politische kommt in Vladimir Sorokins neuem Roman aber nicht vor. Nicht vordergründig. Gerade ein dezenter Hinweis, dass die Russen gerne besoffen im Schnee liegen: "Im Gehen gesoffen. Gestürzt, eingepennt. ,Russland", murmelte er."

Der da im Schnee liegt, ist ein Riese. Dem sind der Doktor und sein Kutscher ins Nasenloch gefahren, sie haben im "Schneesturm" den Weg nicht gesehen. Und sind mit den Kufen ihres Schneemobils in der Riesennase stecken geblieben. Das Nasenloch ist die letzte Station des grotesken Winterabenteuers.

Der Landarzt Platon Garin heuert den Kutscher Kosma und sein von winzigen Pferden ("Pferdis") gezogenes Schneemobil an, um in den Ort Dolgoje zu kommen, wo er die Bevölkerung gegen eine rätselhafte Krankheit impfen soll, die alle Infizierten zu Zombies macht.

Die Zombie-Geschichte ist die erste von vielen bizarren Episoden in dem 200 Seiten schlanken Roman, der als stilistisch altmodische, stellenweise mühsame Erzählung (viel Atmosphäre) beginnt, die zusehends mit immer schrägeren Details aufwartet.

Umständlich und sprachlich sehr verspielt wird jedes Ächzen und Krächzen beschrieben, bis sich Arzt und Kutscher endlich auf den Weg machen; wo unvermittelt Zwerge, gläserne Pyramiden und tote Riesen auftauchen. Und Techno-Wunder wie ein Hologramm-Radio oder eine Paste, die Filzzelte aus der Tube zaubert. Dort, bei den "Dopaminierern" erlebt der Doktor einen fantastischen Drogenrausch. Der Kutscher muss mit Hühnersuppe zufrieden sein.

"Doktorchen" Garon wird das Stigma des wohltätigen Helden verlieren und zum immer verbisseneren Egoisten, dessen Humanismus Selbstzweck ist. Der einfältige, trödelnde Kutscher entpuppt sich als liebevoll geduldiger Weiser. Ein Hinweis auf Regimekritik? Auf die russische Seele jedenfalls.

Der neue Roman des 57-jährigen Sorokin, der als bedeutendster zeitgenössischer Autor Russlands gilt, gehört möglicherweise nicht zu seinen literarischen Meilensteinen. Doch er ist eine bezaubernde, stellenweise verstörende Erzählung.

Barbara Mader

KURIER-Wertung: **** von *****

Georg Markus - "Wenn man trotzdem lacht"

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Niemals wird er, weil KURIER-Kollege, an dieser Stelle eine Wertung bekommen. Trotzdem schreibt Georg Markus unverdrossen weiter. Sein 27. Buch ist das erste, das sich der Geschichte des österreichischen Humors widmet.

Lustig war Markus ja schon mit Anekdoten in "Die Erben der Tante Jolesch". Jetzt aber geht er die Biografien durch: Grünbaum, Farkas, Waldbrunn, Maxi Böhm, Qualtinger, Kreisler, Bronner, Spitzbuben ...

Die bösen Seiten der Spaßmacher lässt er meist aus – nicht so bei Farkas, der verhinderte, dass sein Autor Hugo Wiener ebenfalls auf dem "Simpl"-Programmzettel stand. Eine "Farkas-Wiener-Revue" wäre gerecht gewesen. 1965 stimmte Farkas zu ... und ließ aufs Plakat "Die Wiener Farkas-Revue" drucken. Das Ende der Partnerschaft.

Dem Buch kann nichts passieren. Eine Pointe jagt die andere. Maxi Böhms Sammlung (80.000 Witze) wurde übrigens wurde von der Nationalbibliothek gekauft.

Folgender Witz zeigt, dass "Humor eine Waffe der Seele im Kampf um Selbsterhaltung" (Viktor Frankl) ist:

Hält ein Gestapo-Beamter einen Mann 1941 auf der Straße an, zeigt auf den Judenstern und fragt: "Jude, was?" Darauf der andere: "Nona, Sheriff!" Die KURIER-Serie zum Buch startet am Sonntag.