Minimalismus à la Marie Kondo: Kann das weg?
Die Japanerin Marie Kondo, 34, ist von Beruf „Organisationsberaterin“. Das klingt kompliziert, bedeutet aber im Grunde, dass sie Menschen beim Aufräumen und Entrümpeln hilft. Kondo ist ein Star: Sie hat Bücher geschrieben, die sich weltweit über sieben Millionen Mal verkauft haben. Letzte Woche veröffentlichte der Online-Videoanbieter Netflix die Show „Aufräumen mit Marie Kondo“, um die seither ein riesiger Hype entstanden ist.
Kondos Methode, die sie „Konmari“ nennt, ist so einfach wie radikal: Jeder Gegenstand im Leben muss sich der Frage „Löst es Glücksgefühle aus, wenn ich ihn in die Hand nehme?“, im Original „Does it spark joy?“, stellen. Wenn ja, bekommt er einen fixen Platz zugewiesen. Wenn nein, muss er gehen. Eine kompromisslose Entrümpelung des eigenen Lebens.
Kondos Sendung trifft einen Nerv, das Echo in den sozialen wie klassischen Medien ist riesig. Netflix startete sie zu einem guten Zeitpunkt – zum Jahresanfang, der Zeit der guten Vorsätze. Die Serie ist gut gemacht, bedient sich verschiedener menschlicher Schicksale. Einer trauernden Witwe wird nach dem Tod ihres Mannes bei einem Neuanfang geholfen. Ein junges Paar lernt, sich von alten Dingen (zum Beispiel Kleidung) zu trennen, um Platz für neue Dinge (zum Beispiel das Baby, das auf dem Weg ist) zu schaffen.
Die Serie arbeitet mit dem klassischen Vorher-Nachher-Prinzip. Jede Folge bringt eine klare Entwicklung: Wie Mary Poppins fliegt Kondo in das Leben ihrer Protagonisten ein, wirbelt es durcheinander, um es danach möglichst wirbelfrei wieder zu verlassen.
Mach dich besser
Der Erfolg von Kondos Netflix-Show hat aber auch Gründe, die über das Handwerkliche hinaus gehen. In ihrer Methode laufen mehrere langfristige Trends zusammen. Die Generation der Millennials, die wichtigste Zielgruppe von Netflix, gilt als Generation von Selbstoptimierern. Und der Kern von Konmari ist nicht das Versprechen einer aufgeräumten Wohnung, sondern eines besseren und glücklicheren Selbst, das sich durch einen Prozess von Entscheidungen erreichen lässt. Der Untertitel von Kondos erstem Buch heißt folgerichtig auch „Wie richtiges Aufräumen ihr Leben verändert“.
Darüber hinaus gibt es schon lange einen Trend hin zum Minimalismus. Eine Welt, in der Kunden einer Kaffeehauskette bei einer Bestellung mehrere Entscheidungen (Short, Tall oder Grande? Soja- oder Kuhmilch? Mit Aroma oder ohne?) treffen müssen, ist anstrengend.
Die slowenische Philosophin Renata Salacl hat für dieses Phänomen den Begriff der „Tyrannei der Wahl“ geprägt. Eine unlängst veröffentlichte Studie einer kalifornischen Universität ergab, dass die ideale Speisekarte zwölf Gerichte groß ist. Alles darüber führt nur zu einem anstrengenderen Nachdenkprozess und bietet keinen zusätzlichen Nutzen. Ein von unnötigen Optionen bereinigtes Leben erscheint für viele erstrebenswert.
Fumio Sakaki, ein Landsmann von Kondo, feiert ebenfalls Erfolge als Entrümpelungsguru. Letztes Jahr lieferte er in seinem Buch „Das kann doch weg“ einfache Einsteiger-Tipps wie „Geben sie weg, was Sie ein Jahr nicht verwendet haben“. Die Amerikanerin Courtney Carver wiederum wurde mit dem „Projekt 333“ bekannt. Die Idee dahinter: Für drei Monate beschränkt man seine Garderobe auf 33 Teile, Unterwäsche und Sportkleidung allerdings nicht eingerechnet.
Show statt Aufräumen
So sehr Konmari, der Trend zum Minimalismus und die Entrümpelung in das Jahr 2019 zu passen scheinen, so vorsichtig muss man eventuell mit den Erklärungsmustern sein. Es gibt nämlich noch eine weiteren möglichen Grund für den Erfolg. Der Buchmarkt wurde in den letzten Jahren mit Kochbüchern überschwemmt, das Segment verzeichnete lange zweistellige Umsatzsteigerungen. Gleichzeitig sinkt überall in der westlichen Welt die Zahl der Haushalte, in denen täglich frisch gekocht wird.
Der Verdacht, dass für viele Menschen der Konsum von Kochbüchern oder Entrümpelungshows eine Ersatzhandlung sein könnte, liegt nahe.
Wer Marie Kondo schaut, hat schließlich gerade auch keine Zeit zum Aufräumen.
(Von Jonas Vogt)