Mike Shinoda: Ein Jahr nach dem Trauma
Am 20. Juli 2017 wurde Linkin-Park-Sänger Chester Bennington in seinem Haus in Palos Verdes Estates in Kalifornien tot aufgefunden. Mit nur 41 Jahren hatte sich der Musiker erhängt, nachdem er als Kind jahrelang sexuell missbraucht und geschlagen worden war – und in der Folge zeitlebens mit Depressionen und Sucht kämpfte. Es war ein Schock für die Band-Kollegen, speziell aber für seinen besten Freund, den Linkin-Park-Songwriter und -Rapper Mike Shinoda.
„Es machte keinen Sinn“, sagte kurz danach. „Es kam zu einem Zeitpunkt, als wir alle das Gefühl hatten, dass es Chester besser ging als in anderen Phasen davor.“
Jetzt hat Shinoda das Solo-Album „Post “ veröffentlicht, in dem er chronologisch wie in einem Tagebuch die unterschiedlichen Phasen der Trauer und die Gefühle von Angst, Verwirrung und Depression festgehalten hat.
KURIER: Hat es Mut gebraucht, dieses extrem persönliche Album zu veröffentlichen?
Mike Shinoda:Anfangs habe ich darüber gar nicht nachgedacht. In der ersten Woche nach Chesters Tod habe ich mich nur daheim verkrochen. Ich konnte keine Linkin-Park-Songs hören und auch selbst keine Musik machen. Ich habe dann zuerst gemalt, Bilder, die jetzt im Booklet von „Post Traumatic“ zu sehen sind. Erst nach einem Monat habe ich wieder angefangen, im Heimstudio Ideen aufzunehmen. Daraus hat sich unweigerlich diese Aufarbeitung ergeben. Ich wollte diese Momente so pur und authentisch festhalten, weil sie mir einmalig erschienen. Wenn etwas zu persönlich gewesen wäre, hätte ich es später ja rausnehmen können.
Haben Sie das?
Nein, nichts. Es wäre völlig unpassend gewesen, diese Texte allgemeiner zu gestalten. Denn es erlebt zwar jeder den Verlust eines geliebten Menschen, aber die Version, die ich erfahren musste, war etwas anders. Da waren neben dem Schmerz über den Verlust auch noch all diese verwirrenden Gefühle von der Angst um meine Karriere und um die Band: „Werde ich weiterhin Musik machen können?“
Im ersten Song „Place To Start“ singen Sie: „Ich bin auch ein Bösewicht“. Kommt das von Schuldgefühlen, weil Sie Chester nicht helfen konnten?
Nein, das kommt von Dingen, die man irgendwann gesagt hat, die man später bereut, was auch so eine typische Phase der Trauer ist. Schuldgefühle hatte ich nicht. Denn es liegt an der Person selbst, die depressiv oder süchtig ist, was oft ja Hand in Hand geht, das zu tun, was notwendig ist. Man kann immer wieder sagen: „Geh und hol dir Hilfe!“ Aber du kannst niemanden dazu zwingen. Und wenn sie auf Entzug gehen und dort nicht sein wollen, wenn sie denken, sie sind nur dort, weil sie dazu gezwungen wurden, wird das nicht funktionieren.
Haben Sie sich hilflos gefühlt?
Ich glaube fest, dass es für den schlimmsten Süchtigen und den depressivsten Menschen Hoffnung gibt, das unter Kontrolle zu bekommen. Aber das Traurige ist, dass es eine Menge harter und schmerzhafter Therapie-Arbeit braucht, diese extremen Kindheitserlebnisse aufzuarbeiten. Diese Leute haben aber nicht das Gefühl, dass sich das lohnt, weil sie das Leben als viel zu hart empfinden und keine andere Perspektive kennen.
An den Anfang des Albums haben Sie mitfühlende Botschaften von Freunden von Ihrem Anrufbeantworter gestellt …
Das sind die allerersten Botschaften, die ich danach bekam. Ich wollte damit zeigen, dass das eine reale Story ist. Denn viel zu oft sind Alben heute ein paar Hooks, die sich Leute ausdenken, um in die Charts oder ins Radio zu kommen.
Sie sagten, Sie wussten nicht, ob sie weiter Musik machen können. Woher diese Unsicherheit? Sie hatten davor schon erfolgreiche Soloprojekte.
Ja, schon. Aber zuerst habe ich nur daran gedacht, wie es mit der Band weitergehen könnte. Schon alleine der Gedanke, wie ich ohne Chester einen neuen, tollen Song zustande bringen sollte, hat mich deprimiert. Er war ein so großartiger, legendärer Sänger und Performer. Ich war gewohnt, ihn als diese machtvolle Waffe zu haben, einen Song zu schreiben, den ich ihm geben konnte, und er würde ihn unglaublich machen. Das war die Definition unserer Band. Dass mir das genommen war, war verwirrend und deprimierend.
Wie kamen Sie darüber hinweg?
Ich bin während der Arbeit an „Post Traumatic“ draufgekommen, dass ich ganz automatisch für Chesters Stimme und seine Tonlage geschrieben habe, dass es aber auch natürlich klingt, wenn ich für meine Stimmlage schreibe. Klar kann man meinen Gesang nicht mit Chesters Stimme vergleichen. Aber dieses Album setzt sowie so mehr auf den Inhalt.
Die wichtigste Frage für alle Linkin-Park-Fans: Wie geht es mit der Band weiter?
Die kann ich immer noch nicht beantworten. Wir sehen einander regelmäßig, sprechen viel über die Ereignisse. Aber es sind so viele Fragen offen. Wir haben lauter so liebe, intelligente und kreative Leute in der Band, die alle noch nicht fertig damit sind, das aufzuarbeiten und herauszufinden, wie ihr weiterer Weg aussehen könnte. Und wir sind alle noch nicht bereit dafür, wieder Linkin-Park-Shows zu spielen. Wir würden uns dabei furchtbar fühlen.
Am 7. September treten Sie mit Ihrer Solo-Show in der Wiener Arena auf. Ist das nicht auch schwierig, weil gerade diese Songs Sie immer wieder an den Verlust erinnern?
Manchmal tun sie das, ja. Aber weil ich liebe, was ich tue, ist es auch sehr, sehr schön, wieder auf der Bühne zu stehen – und zu sehen, dass ich das auch als Individuum und nicht nur als Teil einer Band kann. Und wenn ich Linkin-Park-Songs spiele, kann ich das als Feier dessen sehen, was wir mit Chester hatten, anstatt als traurigen Rückblick.