"Russian Doll": Geburtstage sind echt schwer
Jubiläen sind hart. Vor allem, wenn man jenes Alter erreicht, an dem die eigene Mutter gestorben ist. Nadia (Natasha Lyonne) feiert ihren 36. Geburtstag deshalb äußerst zögerlich. Zumindest für ihre Verhältnisse: Die New Yorkerin kommt aus dem Badezimmer, den ein Türgriff in Revolverform ziert, geht zur voll besetzten Wohnküche und zieht an einem mit Kokain versetzten Joint. Happy freakin’ Birthday, liebe East-Village-Bewohnerin.
Die Feier findet in einem New Yorker Loft statt, die Gäste sind party-routiniert, promiskuitiv, selbstbewusst verloren und endlos hip.
Nadia stirbt plötzlich. Und zwar dauernd. Beim ersten Mal ist es ein Taxi. Danach fällt sie ins Wasser. Auch das Stiegenhaus entpuppt sich als große Gefahr für Leib und Leben. Aber eines ist sicher: Sie findet sich stets auf derselben Party wieder. Ein echter (Alp-)Traum.
Möbius-Schleife
Eine Definition für Irrsinn ist es, dieselbe Sache immer und immer zu wiederholen und unterschiedliche Resultate zu erwarten – das angebliche Einstein-Zitat scheint zunächst der rote Faden dieser „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Variation zu sein. „Russian Doll“ bzw. „Matrjoschka“, wie die Serie im deutschsprachigen Raum vermarktet wird, ist eine düstere, komische und komplexe Möbius-Schleife mit Abweichungen: Nadia versucht jedes Leben neu zu ergründen. Zunächst im Vollrausch. Dann über die Psychiatrie. Alles endet, wie es kommen muss: Sie stirbt. Und steht wieder im Bad.
Die Kaltschnäutzigkeit ihrer Charaktere, allen voran Nadia selbst, lässt die Zuschauer weitgehend im Unklaren darüber, welches erzählerische Konzept hier denn zum Tragen kommt: Komödie? Mystery? Horror? Episodenfilm? Jedenfalls hat „Russian Doll“ mit Nadia und ihren Kumpanen die prototypischsten New Yorker gezeichnet, seit Carrie Bradshaw ihre Nuller-Jahre-Oberflächlichkeit in „Sex and the City“ vom Stapel ließ.
Von der Straße
Der Cast wirkt wie von der Straße angeworben – sogar die ortsansässige Stilikone Chloé Sevigny („Kids“, „Brown Bunny“) bekommt eine Rolle. Sie spielt eine verrückte, heruntergekommene Mutter. Mehr sei hier nicht verraten. Die 90er-Jahre, in denen Sevigny ihren Siegeszug begann, sind auch das Setting ihrer kurzen Auftritte in Rückblende – wie vieles hier sehr stimmig. Trotz vieler offenkundiger Referenzen an die Stadt und ihre kulturellen Hervorbringungen gibt sich die Serie so unverkrampft, wie das bei dem vertrackten Plot möglich ist. Die musikalische Untermalung sucht ihresgleichen. Stetiges Begrüßungslied nach jedem Tod ist die 71er-Schmonzette „Gotta Get up“, die Nadia im Badezimmer nach jedem Tod fröhlich von neuem begrüßt. Sonst gibt die Playlist wunderbar entrückte Heutigkeit her. Allerfeinst.
Moderne Alltagskultur verschmilzt in „Russian Doll“ sehr lässig mit mathematischen Erwägungen und dem Backend von Computer-Programmen. Den „Orange is The New Black“-Star Lyonne als Hauptdarstellerin zu besetzen, erweist sich als Glücksgriff mit weiteren Querverweisen. Hier wie da leidet sie an ihrer Familiengeschichte. Wo denkt man daran lieber als am eigenen Geburtstag? Bitte nocheinmal!