Mary Ellen Mark im Westlicht: Am Rand der Gesellschaft
Von Marco Weise
Es gibt Fotografinnen und Fotografen, die Models, Mode, Promis, Essen und Produkte für Werbezwecke fotografieren. Und es gibt welche, die Sozialkritik durch die Kamera üben. Einer der bekanntesten Fotografinnen in diesem Bereich war die 2015 verstorbene US-Amerikanerin Mary Ellen Mark (1940–2015).
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Der aus Pennsylvania stammenden Fotografin ist bis 16. Februar 2025 im Westlicht eine Ausstellung gewidmet. Betitelt wurde die Schau mit „The Lives of Women“, da sie in ihren Arbeiten meist marginalisierte Frauen und Mädchen in den Mittelpunkt rückte. Ausgehende von der in den 1960er-Jahren aufkommenden Frauenbewegung setzte sich Mary Ellen Mark in unprätentiös intimen Bildern immer wieder mit den Schicksalen von Frauen auseinander. „Dabei war sie mehr als eine reine Zeugin, sondern machte sich zur Anwältin ihrer Protagonistinnen“, wie es im Pressetext heißt.
Am Rande der Gesellschaft
Die Ausstellung mit rund einhundert Arbeiten entstand in Kooperation mit der in Madrid ansässigen diChroma photography, kuratiert von Anne Morin, und ist die bislang umfassendste Präsentation ihrer Arbeiten in Österreich. Damit wird einer der wichtigsten Bildjournalistinnen des 20. Jahrhunderts auch jene Aufmerksamkeit geschenkt, die sie verdient hat.
Aber was genau zeichnete das Werk von Mary Ellen Mark aus? „Sie habe die Fähigkeit besessen, ins Innerste von Menschen zu blicken. Sie hatte Empathie für an die Ränder der Gesellschaft gedrängten Menschen. Diesen gab sie mit ihren Bildreportagen für Life, Rolling Stone, Vanity Fair, GEO oder Stern eine Stimme“, sagt Westlicht-Chefkurator Fabian Knierim im Gespräch mit dem KURIER.
Ihr Hauptwerk habe sie Menschen gewidmet, die im Normalfall selten beachtet werden - und schon gar nicht mit einer Kamera. Mark selbst hat ihren speziellen und humanistischen Blick auf die Welt einmal so bechrieben: „Ich mag Porträts, die mir etwas über die abgelichtete Person erzählen und nicht darüber, wie toll der Fotograf ist.“ Mit diesem Statement grenzte sie sich auch deutlich von Kolleginnen und Kollegen ab und formulierte damit auch ihre Haltung, Ideologie, der sie bis zu ihrem Tod treu blieb.
Bilderserien
Ihre Präsentationsform war die Serie, so wie ihr Arbeitsmodus die Recherche auf Augenhöhe war, das rückhaltlose Eintauchen in den Alltag der Menschen, die sie fotografierte. Sie begleitete Menschen über Jahre mit der Kamera: Es war ihr wichtig, eine tiefe Verbindung zu den Menschen aufzubauen, die sie fotografierte. Eine davon war Erin Blackwell mit dem Spitznamen Tiny. Mary Ellen Mark lernte sie 1983 in Seattle als dreizehnjähriges obdachloses und drogensüchtiges Mädchen kennen. Sie begleitete sie über 30 Jahre lang mit der Kamera, machte sie so zur Hauptfigur ihrer Arbeit. Das Mädchen hatte mit 14 schon ihre ersten zwei Verhaftungen wegen Prostitution hinter sich und träumte davon, auf einer Pferdefarm zu leben, Geld für Diamanten und Edelsteine und viele Kinder zu haben. Davon ging nur ein Traum in Erfüllung: Sie bekam zehn Kinder, von denen einige von den Behörden in Pflegefamilien gegeben wurden.
Von Tiny machte Mark eines ihrer bekanntestes Fotos: Es ist ein Porträt von Tiny zu Halloween. Sie trägt ein schwarzes Kleid und einen Hut mit Schleier. Sie sieht so aus, als würde sie auf eine Party gehen, so, als würde sie einer rosige Zukunft entgegenblicken. Tiny wollte, wie sie selbst sagte, „wie eine französische Hure aussehen“. Sie war einer der „Streetkids von Seattle“. Daraus resultierte nicht nur eines ihrer bekanntesten Fotoprojekte, sondern auch eine Dokumentation, die sie mit ihrem Mann, dem Regisseur Martin Bell, drehte. Sie heißt "Streetwise" und wurde 1984 für einen Oscar nominiert.
Im Auto zuhause
Eine andere Langzeitbeobachtung widmete die Fotograin der Damm-Familie, die sie 1987 zum ersten Mal traf und die in Los Angeles mit Kindern und Hund in ihrem Auto lebte. Die Eltern auf den Vordersitzen, die Kinder auf der Rückbank. Das Bild (Aufmacherbild des Artikels, siehe oben) ist eines der bekanntesten aus der Serie. Sieht man sich dieses in der Ausstellung an, löst das viele Fragen, viele Gedanken aus - es macht etwas mit einem. Man sieht den Menschen die Erschöpfung an, das Elend, die Hoffnungs- und Chancenlosigkeit. Und das in Amerika, einem Land der Träume. Aber das gilt eben nur für jene, die es sich auch leisten können, das Geld dafür haben.
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Fast alle ihre wegweisenden Reportagen finden sich in der Ausstellung, die noch bis 16. Februar im Wiener Westlicht zu sehen ist. Die über die Straßenkinder von Amerika, über „Twins“, über eine Frauenpsychiatrieklinik in Oregon („Ward 81“); über Mutter Teresa, die Zirkusartisten, und - eine der wenigen in Farbe - die über die Prostituierten in Indien. Die Fotos von Mary Ellen Mark haben immer auch einen Auftrag: Sie wollen etwas im Beobachter auslösen, wollen Seiten der Welt zeigen, die viel zu oft ausgeblendet oder mit Oberflächlichkeiten überblendet werden.
"Mary Ellen Mark. The Lives of Women" im WestLicht, 22. November bis 16. Februar 2025. www.westlicht.at