Kultur

"Lear" an der Burg: Verrückte führen Blinde

In der ersten Szene des vierten Akts sagt der geblendete Gloster in der sehr guten neuen Übersetzung von Peter Stein: „Das ist die Seuche dieser Zeit – Verrückte führen Blinde“ (when madmen lead the blind). Das gibt am Premierenabend einen großen Lacher – und es ist ein guter Lacher. Denn das heißt, dass Shakespeare vor 400 Jahren einen Kommentar zur österreichischen Innenpolitik von 2013 schrieb, sozusagen.

Wenn Herzog Albany in der letzten Szene zu seiner bösen Frau Goneril sagt „Halt den Mund, Weib“, und das Publikum lacht, weil die (sonst makellose) Goneril-Darstellerin Corinna Kirchhoff in den Minuten davor gar so übertrieben schrill gesprochen hat – dann ist das im Sinne der Inszenierung ein weniger guter Lacher.

Solch deplatzierte Heiterkeit gibt es einige bei der Premiere von „König Lear“: Lacher, die aus Verlegenheit entstanden, weil das Pathos der Inszenierung – inklusive Fahnen, Trompeten und minutenlangen Fechtduellen – manchmal kaum erträglich war. Man kann das bedauern, aber: Wenn ein Sterbender in den Bühnenstaub sinkt und mit den Worten „Jetzt bin ich hin“ sein Leben aushaucht – dann wirkt das bei den meisten Zuschauern von heute unfreiwillig komisch.

Regie-Altmeister Peter Stein und sein künstlerischer Langzeitpartner, der Schauspiel-Titan Klaus Maria Brandauer, dazu Shakespeares großartig jenseitige Tragödie – da schien ein Triumph fix. So war es aber nicht. Zwar gab es sehr freundlichen Applaus und Bravos, vor allem für Joachim Bißmeier und Fabian Krüger als die geschundenen Vater und Sohn Gloster (laut Programmbuch in dieser Schreibweise) – aber ein Triumph sieht anders aus.

Lear als Ausstellung

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König Lear“ beginnt wie ein Märchen: Ein König beschließt, es sei Zeit für die Pension, und teilt sein Reich unter seinen Töchtern auf. Diese eher banale Entscheidung löst einen Sturm der Vernichtung aus, in scheinbar ganz normalen Menschen erwacht das Raubtier. Am Ende sind fast alle tot, ist die Welt wüst und leer. Doch aus einem König ist ein Mensch geworden. Sein Tod am Schluss ist mehr ein Verschwinden, ein Entrücktwerden in das Land der Sage und des Mythos.

Stein und Brandauer zelebrieren das mit heiligem Ernst, als wäre es ein Hochamt. Stein sieht sich ja weniger als Regisseur, denn als Philologe, als Sprachforscher. Konsequenterweise zeigt er weniger eine „Lear“-Inszenierung, als eine „Lear“-Ausstellung. Es ist eine prachtvolle Ausstellung, keine Frage. Und Brandauer spielt Lear, als würde er einen unendlich kostbaren Diamanten schleifen. Das ehrt ihn, aber diesem Schleifvorgang zuzusehen, das hat für den Zuschauer Längen.

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Anders als Andrea Breths ebenfalls weit entfernt von Regietheater-Torheiten angesiedelter Burg-„Hamlet“ hat dieser „Lear“ keine Magie – er ist schön, aber (im kahlen Einheitsbühnenbild von Ferdinand Wögerbauer) erstaunlich oft auch langatmig. Das liegt auch daran, dass Stein nie den Rhythmus wechselt. Das vorherrschende Tempo ist: Getragen. Und das trägt sich halt bald ab.

Warum dieser Abend trotzdem sehenswert ist? Wegen der erstklassigen Schauspieler. Bißmeier und Kröger sind das Zentrum dieser Inszenierung, berühren zutiefst. Michael Maertens ist ein herrlich trauriger Narr, Lears Töchter Goneril (Corinna Kirchhoff), Regan (Dorothee Hartinger) und Cordelia (Pauline Knof) sind stark. Auch Branko Samarovski, Daniel Jesch, Dietmar König, Michael Rotschopf und alle anderen gefallen.

KURIER-Wertung:

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