Der Genuss des Aufwachens, um weiterschlafen zu können
Von Peter Pisa
So schön ist das, wenn man in „Das Erste, was ich sah“ ein Wort sieht, einen Namen, den man NICHT bei Google findet.
Rotter.
Ein Zauber! Ist völlig vergessen worden. Aber diese roten Tabletten, die man in Wasser auflöste, waren in den 1950er-, 60er-Jahren höchst begehrt. Bei Magenproblemen. Also immer.
Es war auch die Zeit der Vierteltelefone: Wollte man telefonieren, war’s garantiert unmöglich, weil einer der anderen drei Teilnehmer aus der Nachbarschaft die Leitung blockierte. Ein selten brauchbares Viertelhandy, ja, das wäre herrlich.
Der Geruch des ersten Fernsehapparats, die belegte Stimme der Mutter nach Abertausenden Zigaretten, die Klopfstange im Hof, der Herr Kogler, der blind war und trotzdem Fahrrad fuhr ... Karl-Markus Gauß’ Erinnerungen sorgen dafür, dass man unverzüglich seine eigene Kindheit ins Gedächtnis zu retten versucht.
Wanderer
„Das Erste, was ich sah“ ist nicht typisch für ihn. Der preisgekrönte Salzburger Autor, Publizist und Essayist ist ein sicherer Wanderer durch osteuropäische Länder und Sprachen.
Jetzt weiß er, dass er auch in die eigenen Vergangenheit gehen kann, und es wird Literatur daraus.
Das starke Gefühl einer solchen Zeitreise stellte sich beim Lesen zuletzt vor gut 20 Jahren in Danilo Kiš’ „Frühe Leiden“ (vergriffen) ein. Kiš, Sohn eines ungarischen Juden, starb 1989.
Die Wirkung ist vergleichbar. Die Bücher sind es nicht: „Frühe Leiden“ ist unendlich traurig. Zum einen, weil Kiš während des Kriegs in der Vojvodina aufwuchs. (Von dort kamen übrigens auch Gauß’ Eltern und Großeltern.)
Zum anderen, weil er viel später nicht einmal mehr „seine“ Straße der Kastanien wiederfand – „Es muss sie hier geben!“
Die Kindheit von Karl-Markus Gauß in Salzburg hingegen war eine glückliche, umsorgte, eine verwöhnte. Er konnte den Moment des Aufwachens lieben; allein schon um des Weiterschlafens willen.
Es sind sinnliche Momente, die er gefunden hat, möglicherweise hat er auch unbeabsichtigt einiges erfunden: So genau kann man beim Erinnern nie sein. Jedenfalls versicherte er sich seiner selbst und kann mit den Bildern seiner Leute jetzt leben und – wie er sagt – ins Alter hineingehen.
Gauß wird nächstes Jahr 60 Jahre alt.
Seine Ausgrabungen enden um 1961, da war er sieben und sehr krank und musste monatelang im Bett bleiben: Da lernte er lesen. Die Bücher gaben seinem Leben die Richtung.
Die goldrichtige.
Karl-Markus Gauß:Vielleicht hat es mit dem Anwachsen der virtuellen Welt um uns herum und auch in unserem Alltag zu tun – dass sich immer mehr Leute der konkreten Dinge ihrer Kindheit zuwenden. Die sind zwar verschwunden, aber einstmals waren sie sehr real.
KURIER-Wertung: ***** von *****