Kultur

Janáček-Premiere in München: Totentanz im „Totenhaus“

In München, wo das Opernhaus des Jahres steht (wobei die Mehrzahl, also Jahre, wohl treffender wäre), ist eine Opernproduktion zu erleben, die gleichermaßen mitreißend wie verstörend, analytisch wie rätselhaft, beklemmend wie grotesk wirkt und alles in allem ein Plädoyer für etwas ist, das beim Musiktheater oft viel zu kurz kommt: das Mitdenken.

Frank Castorf, der Theatermacher, dessen Arbeiten so prägnant und dominant sind, dass nach ihm offenbar ein langer Prozess der Sinnsuche und Neuorientierung nötig wird (siehe Volksbühne Berlin), ließ sich nun erstmals an der Bayrischen Staatsoper ausbuhen (und natürlich auch applaudieren). Diese Proteste waren jedoch nur ein laues Lüfterl im Vergleich zu den orkanartigen bei den Bayreuther Festspielen, wo er den „Ring des Nibelungen“ inszeniert hatte.

Diesfalls führte er bei der Oper „Aus einem Totenhaus“ von Leoš Janáček Regie – und selbstverständlich bricht er auch hier mit Konventionen. Wobei Castorf nur bei extrem oberflächlicher Betrachtung ein bürgerlicher Opernschreck ist, bei näherer jedoch ein genialer Tiefenforscher und Monteur der literarischen, historischen und politischen Vorlagen zu einem musiktheatralischen Mille-feuille.

Grotesk

Sein „Totenhaus“ ist nicht annähernd so trist und pessimistisch, wie es etwa die Maßstäbe setzende Produktion von Patrice Chéreau (in Aix, bei den Wiener Festwochen, an der MET in New York etc.) war. Castorf sucht das Surreale, das Groteske, das Tragikomische in dieser auf Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen basierenden Geschichte über die Zustände und das menschliche Leid in einem Straflager in Sibirien. Dostojewski selbst hatte vier Jahre in einem solchen verbüßt, dort brach auch seine Epilepsie voll aus.

Nun hat Castorf seinen Dostojewski wahrscheinlich besser studiert als sämtliche anderen Dostojewki-Regisseure zusammen. Er mischt die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ mit Dostojewskis „Bösen Geistern“, von denen er Textauszüge in seinen gewohnten Livevideos zeigt, es gibt viele Anklänge an den „Spieler“ und sogar eine auf spanisch rezitierte Passage aus dem Evangelium nach Lukas, vom mexikanischen Sänger Galane Salas gesprochen, was Castorf als Referenz an das dortige Haus des Stalin-Gegners Leo Trotzki erklärt. Ob man das nun alles versteht oder nicht, ob sich jeder szenische Gedanke erklärt, ist dabei fast gleichgültig.

Genial

Was sich in dieser Inszenierung jedenfalls erklärt: Dass es für jemanden wie Castorf viel zu banal wäre, die Brutalität eines Gefangenenlagers eins zu eins auf die Bühne zu bringen; dass es bei Themen wie Religion, Freiheit, Gewalt nie simple Antworten geben kann; dass die von Castorf praktizierte Überlagerung von Zeit- und Inhaltsebenen, diese Collagetechnik ideal zu diesem Werk passt, das auch nicht linear erzählt wird, sondern aus Einzelgeschichten und Assoziationsketten besteht; dass diese Bildgewalt und die Fülle an Eindrücken auch die Komplexität unserer Zeit zum Ausdruck bringen und Castorf damit auch das Rezeptionsverhalten gleich mitthematisiert – er spielt mit unserem gespeicherten kulturgeschichtlichen Wissen und mit unseren Fantasien.

Genial demonstriert er seine theatralische Pranke beim Theater im Theater, der Gefängnis-Aufführung von „Don Juan“ und der „Schönen Müllerin“. Insgesamt ist sein „Totenhaus“ ein revuehafter Totentanz mit androgynen Gestalten, Prostituierten, Skeletten, Opfern und Tätern, die allesamt Träumer sind. Dabei entzieht er sich jeder Wertung und lässt allen Kreaturen einen Rest von Würde.

Gewaltig

Die Drehbühne von Aleksandar Denić zeigt einen Wachturm im Zentrum, der von Zäunen sowie kommunistischen und kapitalistischen Machtsymbolen umgeben ist. Man weiß als Besucher oft gar nicht, wohin man zuerst schauen soll – so vielfältig ist diese Inszenierung, als wäre sie, wie eine Komposition, reichhaltig instrumentiert und ergäbe erst durch die Überlagerung aller Facetten ein großes Ganzes.

Auch dergestalt passt Castorfs Arbeit perfekt zur letzten Oper von Janáček, die zwischen feinen lyrischen Beobachtungen, etwa durch die Streicher, und dramatischer Wucht changiert, zwischen permanenten Rhythmuswechseln und Ostinato-Figuren zum Anhalten für den Hörer, zwischen klanglichen Extremen wie warmen Holzbläsern und harten Amboss-Schlägen.

Dirigentin Simone Young am Pult des präzise und farbenreich spielenden Bayrischen Staatsorchesters lotet diese Kontraste exzellent aus. Ihre „Totenhaus“-Lesart ist höchst expressiv, manchmal schrill wie ein Aufschrei, dann scheint am Ende des Orchestergewitters wieder kurz die Sonne durch, zart wie ein Hoffnungsschimmer. Von einer Volksmusik-Tonalität, die für Janáček so wichtig war, ist sie weit entfernt. Gespielt wird eine neue, von John Tyrell 2017 erstellte, sehr kammermusikalische Fassung.

Die Besetzung der mit 20 Solisten und Chor enorm aufwendigen Produktion ist sehr gut. Peter Rose singt den Aleksandr Petrovič Gorjančikov, dessen Ankunft und Verlassen des Straflagers die Rahmenhandlung bilden, intensiv und profund. Evgeniya Sotnikova ist der junge Tartar Aljeja und auch im Federkostüm der verletzte Adler, die Projektionsfläche für Freiheit. Bo Skovhus singt berührend und ausdrucksstark den Monolog des Mörders Šiškov und ist auch zwischendurch mit Stöckelschuhen als Transvestit sehr präsent. Aleš Briscein als Filka/Luka, Charles Workman als Skuratov u. v. a. tragen zum Erfolg dieses komplexen Ensemblestückes bei.

Am besten wäre es jedenfalls, man würde diese Inszenierung gleich mehrfach sehen, um sie nach und nach zu enträtseln. Eine Online-Möglichkeit gibt es am Samstag, 26. Mai, ab 19 Uhr – da wird die Aufführung kostenlos (!) auf www.staatsoper.tv übertragen.