Blutige Nase als Preis fürs Abenteuer
Die deutsche Version von "Do The Know It’s Christmas" für Bob Geldofs Band-Aid-Trust und den Kampf gegen die Ebola-Epidemie. Dazu ein Buch, für das die Toten Hosen ihre Tagebücher und Fotokisten geöffnet haben: Auch wenn seine Band (noch) nicht wieder im Studio ist, Sänger Campino ist schon wieder fleißig.
KURIER: Sie sagen, die Arbeit an dem Buch war ein „quälender Prozess“. Warum das?
Campino: Weil es nicht darum gehen konnte, dass es eine Art Hofberichterstattung über uns wird, eine Broschüre, wo chronologisch aneinandergereiht wird, was Spaß gemacht hat. Deshalb mussten wir uns dabei auch gewissen Dingen aus der Vergangenheit stellen. Als Band haben wir über die Jahre eine gewisse Rollenverteilung entwickelt, agieren, wenn wir zusammensitzen, wie das voneinander erwartet wird. Aber wenn diese Struktur aufgebrochen wird und ein Journalist jeden einzeln interviewt, kommen ganz andere Sachen auf: Die Sichtweisen der anderen, wie sie die Dinge einem Dritten gegenüber beschreiben . . . da wurde es spannend.
Was waren die Dinge in den Sichtweisen der anderen, die Sie überrascht haben?
Es stimmt natürlich, dass ich oft zu spät komme, da bin ich eine Schlampe. Aber was meine Wutausbrüche angeht... das muss ich wohl akzeptieren, wie es im Buch dargestellt ist. Wenn das so offen im Raum steht, wird da etwas dran sein. Und deshalb versuche ich, daraus zu lernen.
Das waren diese Familiengeschichten, die aber sein müssen, um aufzuzeigen, aus welchem Background man kommt, was einen geprägt hat. Wenn man dabei darauf zu sprechen kommt, dass es zuhause nicht immer nett abgelaufen ist, dass der Vater gepoltert hat, wird es schon schwierig. Denn ich habe fünf Geschwister, die das Buch irgendwann in die Finger kriegen und es vielleicht nicht optimal finden, dass da Interna aus der Familie erzählt werden. Einer meiner Brüder ist Anwalt und ich weiß nicht, ob ihm das so sehr gefällt. Auf der anderen Seite ist das auch meine Familie und meine Sichtweise und musste deshalb gesagt werden. Das Anstrengende war, dass ich dabei immer im Blick hatte, dass ich niemanden verletzen oder in ein Licht rücken will, das er nicht möchte.
Haben Sie den Geschwistern die heiklen Zeilen vor der Veröffentlichung vorgelegt?
Das hätte ich in dem Moment getan, wo ich gedacht hätte, das ist grenzwertig. Aber ich habe viele von diesen Stellen dann selbst rausgestrichen. Stellen, wo meine Brüder zitiert werden, habe ich drin gelassen, weil ich mir sicher bin, dass sie damit klarkommen werden. So gut kann ich sie schon einschätzen. So habe ich dann eher gedacht, es ist eine Überraschung für sie, dieses Buch zu lesen. Aber vielleicht hauen sie es mir ja auch um die Ohren.
Einer Ihrer Brüder erzählt dabei, dass Sie während der letzten Tour depressiv waren. Woran lag das?
Es ist sicher nicht so einfach, dass es an diesem Hit "Tage wie diese" lag, oder an dem Erfolg, dass man danach eine große künstlerische Leere verspürt. Ich würde es auch nicht Depression nennen, sondern eher depressive Stimmungen. Aber natürlich hat man Momente der Leere und fühlt sich überfordert. Ich speziell hadere auch unheimlich mit mir. Ich habe oft große Zweifel, wenn wir ein Projekt angehen. Und irgendwann werfe ich mich dann in den Kampf und es löst sich fast immer in Wohlgefallen auf. Aber es ist meine feste Überzeugung, dass wir Menschen für alles, was wir tun, einen Preis zu zahlen haben. Bei uns bedeutet das Leben in der Öffentlichkeit, das Leben auf Tour, dass man dabei auch eine gewisse Oberflächlichkeit leben muss, weil man sonst gar nicht mehr klar kommen würde. Und das ist halt der Preis.
Ich meine das ganz simpel: Nehmen wir mal an, ein Mensch würde nur in seiner Wohnung bleiben. Der würde ziemlich gesund bleiben, aber der Preis wäre, er wüsste nicht, wie das Nachtleben da draußen ist, wie sich ein Abenteuer anfühlt. Wer rausgeht und das Abenteuer hat, holt sich halt öfter mal eine blutige Nase. Aber er weiß auch nicht, wie schön es in der Wohnung sein kann. Egal, wofür man sich entscheidet, es bedeutet immer auch einen Abschied von der anderen Sache, gegen die man sich entschieden hat. Insofern zahlen wir alle für das, was wir tun.
Für mich wäre das der Tag, an dem ich mich selbst nicht mehr finde, wo ich sagen würde, ich muss wieder auf den Boden kommen. Ich muss ein zuverlässiger Partner sein: Für meine Freunde, für mein Umfeld, für meinen Sohn und für meine Beziehung.
Apropos Sohn: Gitarrist Kuddel sagte über das Buch, dass er hofft, dass gewisse Stellen weder die Polizei noch seine Kinder lesen. Welche Stellen würden Sie der Polizei und ihrem Sohn gerne vorenthalten?
Die Stellen, die die Polizei nicht lesen soll, sind bei mir gestrichen. Aber es ist sicherlich schwierig, mit den Kindern über den eigenen Drogenkonsum zu sprechen - ohne sich zu verbiegen. Denn man will sie ja nicht anlügen. Das ist auch eine Frage des Alters und der Reife. Mein Sohn ist jetzt zehn Jahre alt, dem würde ich dieses Buch noch nicht zu lesen geben. Denn meiner Meinung nach sind da eine Menge Dinge drinnen, die er jetzt noch nicht einordnen kann. Kuddels Kinder sind älter, ich glaube, seine Tochter ist 17 oder sogar 18, der Sohn 20. Die verstehen, worum es geht, die sind in ihrem Leben sicher schon mit dem Thema Drogen konfrontiert gewesen. Denn es ist nun mal so, dass man ab 13, 14 davon ausgehen muss, dass Jugendliche auf einer Party irgendwie damit in Kontakt kommen. Da lohnt es sich nicht, seine Glaubwürdigkeit einzubüßen, indem man Mist erzählt. Da muss man mit seinen Kindern ehrlich sein.
Glauben Sie, dass Sie Ihren Sohn besser davor bewahren können, weil Sie selbst diese Erfahrungen mit Drogen gemacht haben?
Das ist sehr schwierig. Ich glaube nicht, dass ich ihn vor Problemen bewahren kann. Ich versuche, ihm eine gute Intention mitzugeben, dass er Vorsicht gegenüber gewissen Dingen entwickelt. Aber im entscheidenden Moment wird der Bengel natürlich genau das tun, wovon der Vater unbedingt abrät. Ich kann da nur beten, dass er das Glück hat, das ich hatte. Ich habe viel Mist gebaut, bin aber aus irgendwelchen Gründen immer davon gekommen. Bei mir hat sich das nicht katastrophal ausgewirkt. Aber Freunde von mir... die hat es zerrissen. Ich kann aber nicht davon ausgehen, dass dieses Glück, das mir im Leben zugeteilt wurde, auch anderen so in Hülle und Fülle gegeben wird.
In dem Buch wird auch der Konflikt zwischen kommerziellem Erfolg und Ihrer politischen und sozialen Haltung angesprochen . . .
Das ist eine Sache, mit der wir schon seit Jahren Schwierigkeiten hatten. Es gibt ja auch dieses Empfinden, Beifall von der falschen Seite zu bekommen. Andererseits habe ich das immer als großes Plus gesehen, dass wir bandintern immer in der Lage waren, Kritik zuzulassen und auch immer versucht haben, uns ständig neu zu justieren. Erfolg ist ein großes Glück, aber man muss auch korrekt damit umgehen. Ich finde Leute, die ständig Erfolg verstrahlen und so tun, als hätten sie sich das verdient unsympathisch. Ich glaube, niemand von uns hat sich irgendetwas in seinem Leben verdient, sondern wir bemühen uns alle, jeder gibt sein Bestes, und manche bekommen obendrauf auch noch ein Geschenk. Aber das ist nichts Selbstverständliches. Und die Haltung, ich stehe jetzt hier, weil ich mir das verdient habe, ist der Vorspann zu dem nicht ausgesprochenen, aber gedachten Satz: Und die anderen, die nicht hier stehen, haben es sich nicht verdient. Und das ist für mich eine unerträgliche Haltung.
Die hatten Sie ja aber ohnehin nie.
Nein, die habe ich nie gehabt. Aber das ist der Grund dafür, warum wir auch oft so eine verkrampfte Haltung gegenüber dem Erfolg hatten. Die ersten Preise, die wir bekommen haben, Echos, oder was immer - da dachten wir schon: "Wird uns jetzt angekreidet, dass wir uns darüber freuen? Wir haben unsere Lieder ja auch nicht geschrieben, um einen Preis zu bekommen, sondern weil das unser Lebensgefühl war. Vielen Dank für die Geste, aber was machen wir jetzt damit?" Und wir kamen ja aus der Punk-Szene, wo ohnehin alle alles, was aus dem Establishment gekommen ist, verflucht und verhöhnt haben. Erst mit den Jahren haben sich da die Werte und die Einstellung dazu verschoben. Erst mit der Zeit konnten wir diese Dinge annehmen und haben sie nicht - wie in den ersten Tagen - verachtet.
Dann hat sich dieser Konflikt mit dem Sensationserfolg von „Tage wie diese“ nicht verstärkt?
„Tage wie diese“ war schon noch einmal ein unglaublicher Schub. Und zwar an einem Punkt, wo die meisten Leute - uns eingeschlossen - schon gedacht haben, von den Toten Hosen hat man alles gehört. Man meint, wenn man 30 Jahre dabei ist, ist man mit allen Wassern gewaschen und man lässt sich davon nicht mehr beeindrucken. Aber wenn ich mich genau beobachte, habe ich mich auch hier wieder verführen lassen. Da ging eine gewisse Gier los, und irgendwo fängt man an, es als selbstverständlich zu nehmen, dass die Leute einen abfeiern. Man wird so ein bisschen unbescheiden und auf so eine komische Art und Weise beginnt man, immer noch mehr zu wollen. Man darf aber nicht anfangen, dadurch sein Umfeld zu vergessen. Gier ist etwas, was in vielen von uns steckt. Und die ist ein ganz widerwärtiger Geselle. Wie ein Dompteur immer dem Tiger in die Augen schauen muss, muss man sich immer bewusst sein, diese Gier lauert da irgendwo und darf nicht unbändig durch die Gegend streifen.
Ja, aber die ist wieder in der Schublade verschwunden. Wir haben irgendwann gesagt, wir müssen mit den Realitäten klar kommen: Wir haben ein Büro mit Mitarbeitern. Und wenn es zu Ende gehen sollte, müssen die die Chance haben, sich darauf vorzubereiten. Wie würde das aussehen, wenn wir müde werden? Was sind die Dinge, die uns auf dem Weg zum Ausgang noch wichtig sind? Das haben wir uns überlegt - so als lose Gedankenspielerei. Aber jetzt haben sich die Karten noch einmal neu gemischt. Wir wissen, dass wir immensen Spaß haben und dass unsere Lieder auch noch relevant sind, dass sie noch gehört und diskutiert werden. Da haben wir gesagt, das ist die Vertragsverlängerung: Wir dürfen noch eine Platte machen.
Sind Sie schon wieder im Studio?
Wir sind noch nicht im Studio. Uns ist auch noch nichts Gutes eingefallen. Aber es steht im Raum, dass es noch eine Platte geben wird. Und das ist ein schönes Gefühl. Wir wissen noch nicht wie, aber irgendwann passiert das. Und letztendlich liegt es auch gar nicht an uns: Wir meinen immer, wir müssen große Pläne schmieden, aber das Leben kommt auf uns zu und knallt uns etwas ganz Neues vor die Füße.
Damit spielen Sie auf Band-Aid an, auf die deutsche Version von „Do They Know It’s Christmas“, die Sie gerade aufgenommen haben?
Genau. Wir hatten den schönen Plan, dass wir nach Österreich kommen, ein bisschen über das Buch plaudern und dann ist es auch gut. Und dann ruft vor etwas mehr als zwei Wochen Bob Geldof an und wir waren plötzlich nur noch am Telefon, um die Musiker zu kontaktieren, die Aufnahmen zu organisieren. Wir sollten das Lied umschreiben, müssen uns anfeinden lassen. Wir müssen uns rechtfertigen, wo das Geld hingeht, müssen Transparenz schaffen, alles Mögliche. Plötzlich waren wir in einem Meer von Arbeit und Auseinandersetzungen, aber auch so vielen guten Momenten. Manchmal, wenn ich eine Minute Zeit habe, denke ich, dafür gibt es die Toten Hosen: Dass wir uns in so eine Schlammschlacht hinein begeben, ohne zu wissen, ob wir gewinnen oder verlieren, oder ob es Ärger gibt. Wir werden aktiv, weil wir von der Sache überzeugt sind.
Sie wurden für Band-Aid angefeindet?
Ja, das ist schon sehr zynisch, was einem da an Kommentaren entgegenschlägt. Da wird den Leuten, die mitmachen, unterstellt, sie wollen sich nur profilieren und wieder ins Gespräch bringen. Die Zusammenhänge werden völlig verkannt: Viele spekulieren, was verdienen die denn dabei? Dabei ist völlig klar, dass da kein einziger Penny in irgendeine private Tasche geht. Dann wir spekuliert, dass die Spenden missbraucht werden, oder dass Entwicklungshilfe sowieso nichts bringt. Warum kümmern sich die Toten Hosen nicht um das Unglück vor der eigenen Haustüre? Und auch die intellektuelle Presse sagt dann: Jetzt wollen sie wieder die Welt retten - mit diesem Liedchen über Afrika, wo schon der Text völlig dämlich ist. Dann diskutieren sie über diesen Text, der vor 30 Jahren geschrieben wurde und sehen überhaupt nicht, dass ein Lied immer nur ein Lied sein kann. Und in dem Fall ist es ein etwas kitschiges Weihnachtslied, das Emotionen schüren soll. Sich auf so eine Diskussion einzulassen, ist idiotisch. Es ist haarsträubend, was da für eine Bandbreite an Gefühlen und Aufforderungen auf einen zukommen. Aber im selben Moment sind auch tausende positive Stimmen da. Leute, die sagen, endlich gibt es mal wieder so etwas. Es waren unheimlich viele Musiker im Studio, die sagten: Toll, wir hätten nicht mehr gedacht, dass es noch möglich ist, über Nacht alle zusammenzubringen, dass alle über ihren Schatten springen, egal aus welchem Genre, und zusammen etwas machen. Dass das noch geht, allein das ist schon ein tolles Gefühl.
Nein, das ist eine gemeinschaftliche Adaption von Marteria, Thees Uhlmann, einem Texter aus München, der Sebastian Wehlins heißt, und mir. Wir haben uns in einer Nacht- und Nebelaktion getroffen, wie die Schuljungen an einen Tisch gesetzt und alle Ideen und Gedanken in den Topf geworfen. Aber den Refrain haben wir auf Englisch gelassen: Der ist in Stein gemeißelt, Kulturgut! "Ahnen Sie, das Weihnachten ist?" wäre kein guter Song-Titel. Das haben wir nicht angefasst, aber die Strophen sind alle auf Deutsch und es gibt auch einen Hip-Hop-Part, der sich stark von der englischen Version unterscheidet.
Die Spenden sollen helfen, die Ebola-Epidemie einzudämmen. Das ist aber nur eines der großen Probleme, die die Welt zur Zeit hat. Ein anderes ist der Flüchtlingsstrom aus Syrien. Wurde besprochen, ob Spenden auch dahin gehen sollen?
Na ja, das ist sehr schwierig. Denn im Grunde geht es um ein Kernproblem. Und das heißt Armut. Wenn wir in Europa Ebola-Fälle haben, können wir diese Personen isolieren, wir haben die beste Ausrüstung und haben gute Chancen, dass es sich nicht weiter ausbreitet. Aber in Afrika sind die Leute durch die Armut katastrophal auf so etwas vorbereitet: Das Gesundheitssystem ist darnieder, die Menschen sind arm. Das heißt Seuchen und Epidemien können sich viel schneller und verheerender ausbreiten. Und es bedeutet auch, dass die Leute aus diesen Gebieten weg wollen. Da sind wir dann ohnehin schon wieder beim Flüchtlingsthema. Wir müssen es alle gemeinsam schaffen, Afrika zu einem Kontinent werden zu lassen, auf dem die Menschen nicht vor die Hunde gehen, weil sie sich entscheiden, da zu bleiben. Dann würde es auch kein Migranten-Problem geben. Die Leute kommen bestimmt nicht wegen des guten Wetters nach Europa. Insofern ist diese eine Aktion nur ein kleines Rad in einem großen Problemfeld, das behoben werden muss. Die Summe, die wir zusammenkriegen, wird in den Ebola-Gebieten helfen, aber bei weitem nicht ausreichen, um da größer anzusetzen und die Hilfe breiter zu streuen. Das muss auf viele Arten angegangen werden - mit Regierungsgeldern, mit anderen Spendenaktionen. Aber die Hauptsache ist, dass man ist bereit ist, zu erkennen, dass wir hier nicht völlig abgeschieden leben. Dass wir stattdessen mit der Welt immer enger vernetzt sind und es für uns letztendlich - mit gutem Gewissen - nur ein schönes Leben geben kann, wenn die anderen zumindest menschenwürdige Lebensumstände haben.