Der erste Popstar der Bilderwelt
Von Michael Huber
Retromania“ nennt der britische Kritiker Simon Reynolds die Besessenheit von Nostalgie, die gegenwärtig unsere Pop-Kultur durchzieht. Der Maler Henri de Toulouse-Lautrec, vor 150 Jahren geboren und 1901 verstorben, hat vor diesem Hintergrund das Zeug zum Ur-Popstar der visuellen Kultur: Seine berühmtesten Bilder beschwören ein Paris, wie es eigentlich nur in der kollektiven Retro-Fantasie existiert – verrucht, erotisch, überschwänglich.
Toulouse-Lautrecs Bilder erzählen auch vom Beginn der Populärkultur selbst: Von Konzertcafés, Cabarets und natürlich vom „Moulin Rouge“, wo die Tänzerin „La Goulue“ („die Gefräßige“) einst im Schein der hochmodernen elektrischen Lampen vor ihren Rock vor Herren mit Zylindern lüpfte.
Laute Hits
Doch solche bildnerischen Hit-Singles, die in Sachen Auffälligkeit und Prägnanz auch nach 120 Jahren noch „funktionieren“, sind nicht der Grund, warum es sich lohnt, diese Ausstellung – die erste umfassende Retrospektive zu Toulouse-Lautrec in Österreich – zu besuchen. Denn Lautrec, der Popstar, dringt auch durch Lautsprecher zu uns; wer einmal ein Poster von La Goulue, Aristide Bruant oder einem anderen Lautrec-Favoriten in seiner Wohnung hatte, möge bitte aufzeigen.
Die Intimität, die der Künstler herzustellen und festzuhalten imstande war, erschließt sich aber nur vor den Originalen so richtig. Mit dünnen Ölfarben, Bleistift oder Pastellkreide hielt Toulouse-Lautrec sein Umfeld mit einer Eigentümlichkeit fest, die bis heute fasziniert. Auf Papier oder Karton gemalt, sind die Bilder für Restauratoren heute ein Albtraum – die Ausstellung ist daher auch ein logistischer und organisatorischer Kraftakt.
Flüster-Botschaften
Die Unmittelbarkeit, die aus diesen Bildern dringt, verbirgt aber nicht, dass der Künstler überlegt handelte und unentwegt Doppelbödigkeiten in seine Bilder einbaute: In einer Bordellszene („Frau mit Korsett“, 1896) hängt da wie zufällig ein Bild mit dem antiken Motiv von Nymphe und Satyr an der Wand, das den zugeknöpften Freier im Werk als „geilen Bock“ enttarnt. Ein anderer, sittsam gekleideter Herr namens Gaston Bonnefoy (Bild von 1891) wird durch einen erigierten Spazierstock als ein solcher entlarvt.
Hier ist das Cancan-Getöse verstummt, die Bühnenlampen sind düster: In dieser Ausstellung kann man Toulouse-Lautrec, den vielleicht ersten Retro-Popstar der Kunst, auch flüstern hören.
Der Künstler
Die Ausstellung
„Henri de Toulouse-Lautrec – Der Weg in die Moderne“ ist bis zum 25. Jänner 2015 im Bank Austria Kunstforum Wien zu sehen (Freyung 8, 1010 Wien; täglich 10 bis 19 Uhr, Freitag 10 bis 21 Uhr). Tickets kosten 10 Euro für Erwachsene, es gibt diverse Ermäßigungen. Der Katalog zur Schau (erschienen im Kehrer Verlag) kostet 29 Euro.
www.kunstforumwien.at