Rotenturmstraße: Die Straße der Prominenz
Von Georg Markus
Sie ist eine der besten und geschichtsträchtigsten Adressen der Stadt. Die Rotenturmstraße, jahrhundertealte Verbindungsader zwischen Stephansplatz und Donaukanal, soll laut Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou Wiens nächste Begegnungszone werden. Womit dem prominenten Verkehrsweg ein Aufreger sicher ist, denn die Umwandlung in fußgängerfreundliche Zonen hat die Wiener immer schon entzweit. Das war 1974 so, als die Kärntner Straße zur ersten Fußgängerzone der Stadt wurde, und das war vor drei Jahren bei der Mariahilfer Straße nicht anders. Bei der Rotenturmstraße wird’s ähnlich sein, wie erste Proteste von Bezirk, Opposition und einem der beiden Autofahrerclubs bekunden.
Bischöfe und Unterwelt
Genaugenommen sind Begegnungs- und Fußgängerzonen nichts anderes als ein Blick in die Geschichte, denn irgendwann war jede Straße Begegnungszone. In jenen autolosen Tagen beherbergte die Rotenturmstraße Bewohner und Gäste wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Da steht seit bald 400 Jahren das ehrwürdige Erzbischöfliche Palais als Sitz der Kirchenfürsten, vor dessen Toren die Prostituierten einst ihrer Freier harrten. Und der „Mariahof“ auf Nr. 16 war der bevorzugte Treff der Wiener Unterwelt. Gleichzeitig war und ist die Rotenturmstraße eine der elegantesten Wiener Wohn-, Büro- und Geschäftsstraßen.
Im Mittelalter floss hier ein kleines, übel riechendes Bächlein, das sich den Weg bis zum Donaukanal ebnete. Später wurden Wien-Besucher, die per Schiff in die Haupt- und Residenzstadt gelangt waren, durch diese Straße ins Zentrum gelotst. Ein Chronist beschreibt die Gasse „am Rotten Thurm mit schönen grünen Bäumen bestückt, die mit Äpfeln, Birnen und Pomeranzen behängt gewesen…“
Der genannte Rote Turm war es, dem die Straße ihren Namen verdankt. Bereits 1288 urkundlich erwähnt, stand der Turm an der Ecke zum heutigen Schwedenplatz, diente als Teil der Stadtbefestigung und damit dem Schutz vor einfallenden Feinden. 1776 wurde der Rote Turm abgetragen.
Prominente Bewohner
Viel Prominenz hat in der verlängerten Kärntner Straße gewohnt. Im Haus vis-à-vis des Erzbischöflichen Palais – dort, wo sich heute der Kennedy-Hof befindet – kam 1724 Eva Marie Veigel als Tochter eines Lakaien zur Welt. Sie wurde mit 22 Jahren zum Star des Londoner Haymarket Theatre und als „Mademoiselle Violette“ zur gefeiertsten Tänzerin der Welt. Ihr Ruhm wurde noch größer, als sie Englands berühmtesten Schauspieler David Garrick heiratete, der Shakespeares Stücke populär machte. Nach Wien ist Eva Marie Veigel, die fast 100 Jahre alt wurde, nie wieder zurückgekehrt.
Die große Verführerin
Auf Nr. 15 starb 1745 Johann Lukas von Hildebrandt, der Architekt von Prinz Eugens Belvedere und des Winterpalais. Und im Haus Nr. 20, das einst der Familie Karajan – den Vorfahren des Dirigenten – gehörte, wohnte die Schauspielerin Adele Sandrock. Sie galt als erotischste Frau ihrer Zeit und verführte die Dichter Arthur Schnitzler, Roda Roda und Felix Salten. Vermutlich in ihrer Wohnung auf der Rotenturmstraße, zumal die Herren allesamt verheiratet waren. Die Sandrock schrieb nicht nur Theater-, sondern auch Literaturgeschichte, weil Schnitzler sie als Vorbild für die Rolle der Schauspielerin in seinem Liebeskarussell „Der Reigen“ nahm.
Besagter „Reigen“ erlebte 1921 seine Wiener Erstaufführung – ebenfalls in der Rotenturmstraße. Denn hier befindet sich mit den Kammerspielen eines der populärsten Bühnenhäuser der Stadt, in dem Lieblinge von Hans Moser über Käthe Gold bis Paula Wessely auftraten. Das Theater wurde 1910 von einem Schauspieler gegründet, der sich Mario von Rehlen nannte. Er hatte nach dem Tod seines Vaters, eines Bauunternehmers, eine große Erbschaft gemacht und das Theater unter der Bedingung finanziert, selbst darin spielen zu dürfen. Die paar Auftritte, die er sich damit erkaufte, kosteten ihn 200.000 Kronen (heute 500.000 €), denn die Kammerspiele gingen bald pleite. Ein Schicksal, das ihnen mehrmals widerfuhr. Erfolgreich sind sie erst, seit sie die Boulevard-Dependance des Theaters in der Josefstadt sind.
Schnitzlers „Reigen“ in den Kammerspielen führte übrigens zum größten Skandal in der Wiener Theatergeschichte. Das Stück zeichnet in zehn sexuellen Begegnungen ein Sittenbild seiner Zeit. Grund genug für deutschnationale Horden, zwei Wochen nach der Premiere die Vorstellung auf der Rotenturmstraße zu stürmen. Sie warfen Stinkbomben, schleuderten Logensessel gegen arglose Theaterbesucher, rissen Frauen an ihren Haaren zu Boden und verletzten einen Zuschauer durch einen Schlagring schwer.
Die Sperre des „Reigen“
Schnitzler ließ den „Reigen“ nach dem Eklat für alle Zeiten sperren, erst sein Sohn Heinrich erteilte viel später die Erlaubnis, das Drama wieder aufzuführen. Heute ist es ein Stück Weltliteratur.
Das 1641 errichtete Erzbischöfliche Palais ist das bei weitem älteste erhalten gebliebene Gebäude der Rotenturmstraße. Es erlebte seine dramatischste Stunde am 8. Oktober 1938, als Angehörige der Hitlerjugend das Palais überfielen, verwüsteten und den Domkuraten Johannes Krawarik aus einem Fenster im zweiten Stock warfen. Der Priester blieb schwer verletzt im Hof des Palais liegen und musste für mehrere Monate in Spitalspflege.
Ziemlich viel Geschichte für einen halben Kilometer zwischen „Steffl“ und Franz-Josefs-Kai. Gut möglich, dass die Rotenturmstraße bald an jene Zeiten erinnern wird, in denen sie – ohne es zu wissen – eine Begegnungszone war.georg.markus