Kultur

Friedrich Orter: "Nur nicht den Helden spielen"

Berührende Szene in der ZiB 2: Friedrich Orter verabschiedet sich. Der Syrien-Einsatz war sein letzter für den ORF.
Es wolle innerlich zur Ruhe kommen, erzählt der 63-Jährige im KURIER-Gespräch im Café Museum. Wie konnte er Einsätze in 14 Kriegen überleben? Immer wenn’s eng wurde, war sein Motto: "Nur nicht den Helden spielen!" Das musste er auch nicht, denn für die Zuschauer der "Zeit im Bild" war er längst ein Held.

Ab Montag ist Friedrich Orter ORF-Penionist – "Privatier" gefällt ihm besser. Und von Ruhestand ist keine Spur: Nach eineinhalb Stunden Interview steht er auf und eilt zu seinem nächsten Termin. Dann, im Gehen, dreht er sich noch einmal um, hebt die Hand und ruft: "Vergessen Sie nie: Der nutzloseste Reporter ist der tote Reporter!"

KURIER: Herr Orter, Hand aufs Herz: Wie viel vom Elend auf der Welt erfahren wir Fernsehzuschauer nie?
Friedrich Orter: Wenn Sie zu viel von diesem Elend sehen, stumpfen Sie ab. Wir berichten zwar von Kriegen und Katastrophen, wir wissen aber, dass wir damit eine Reizüberflutung auslösen.

Das Zuschauerinteresse steigt schlagartig, wenn ein Star in einer Krisenregion auftaucht. Sie haben 2007 verhindert, dass die ZiB über Angelina Jolies Irakreise berichtet ...
Dasselbe ist auch jetzt passiert: Angelina Jolie war einen Tag vor mir im jordanischen Flüchtlings­lager Zatari, tätschelt dort ein paar Kinder, wird vom König empfangen, berichtet, wie furchtbar das Elend dieser Welt ist, fliegt zurück auf ihr Landgut nach Frankreich und lässt uns weiter zappeln, ob sie endlich heiraten wird oder nicht.

Und Sie wurden nicht vom König empfangen?
Wir waren schon froh, dass wir eine Drehgenehmigung bekamen.

Wie sehr nimmt Sie das Leid der Flüchtlinge – nach Jahrzehnten der Berichterstattung – persönlich mit?
Ich hab’ die Erfahrung gemacht, dass nicht jeder, der ein Flüchtling ist, per se ein guter Mensch ist. Ich glaube den Heulenden und den Kindern. Und ich glaube, dass die Frauen am meisten leiden, wenn Familien zerrissen werden. Die Männer in den Flüchtlingslagern haben oft gesagt: "Filmt uns nicht wie Tiere! Wir brauchen Waffen, keine Kameras."

Wie lange wird uns der arabische Raum noch beschäftigen?
Diese Region wird uns in den nächsten Jahrzehnten intensiv beschäftigen. Auch für diesen Fall gilt das legendäre Wort des Lew Dawidowitsch Bronsteins, besser bekannt als Leo Trotzki: "Es mag sein, dass du dich nicht für den Krieg interessierst, aber der Krieg interessiert sich für dich."

Hat sich der Krieg für Sie mehr interessiert als für andere Europäer?
Es hat sich eher zufällig ergeben. Neben einigen anderen unnützen Dingen in meinem Leben habe ich auch Geschichte studiert ...

Wieso unnütz? Sie wollten doch Lehrer werden?
Ja, ich wollte die österreichische Jugend erziehen. Aber das war mir, offen gesagt, zu fad. Da bekam ich die Chance, im ORF mitzuarbeiten.

Sie haben sich stets als Friedensreporter und nicht als Kriegsreporter bezeichnet, und Sie haben sich immer um Fairness bemüht. Dennoch wurde Ihnen 1992 von ORF-Kollegen vorgeworfen, Sie hätten vom Krieg in Jugoslawien Kroaten-freundlich berichtet. Das soll Sie damals sehr getroffen haben.
Ja, weil es nicht stimmte. Das haben Leute behauptet, die nie dort waren und die bis heute Slowenien und Slawonien verwechseln. Von solchen Dilettanten wollte ich mich nicht einschüchtern und schon gar nicht aufklären lassen.

Wieso betonen Sie so, dass Sie sich nicht als Kriegsreporter sehen?
Weil ich immer von denen berichtet habe, die vom Krieg betroffen waren. Von den Opfern. Die Kriegsherrn haben mich nie so sehr als Interviewpartner interessiert.

 

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Umgekehrt haben sich Kriegsherrn aber für Ihre Arbeit interessiert
Ja, es gab einen, der mir gedroht hat, der legendären Generalmajor Milan Aksentijevic. Ich habe damals in der "Zeit im Bild" berichtet, dass die jugoslawische Armee die Stadt Petrinja mit Raketen und Granaten beschossen hat. Er hat mir vorgeworfen, ich hätte diese Bilder inszeniert, um die österreichische Regierung zu beeinflussen. Damit hat er mich quasi für vogelfrei erklärt. Im Vorjahr, 20 Jahre nach dem Krieg, habe ich eine Dokumentation gemacht, da hab’ ich den Herrn General wieder getroffen und ihn gefragt, ob er das damals wirklich ernst gemeint hat.

Hat er sich an Sie erinnert?
Ja, klar. "Ach Sie waren das", hat er gesagt. Er hat gelacht und mich umarmt. Wir haben uns ausgesöhnt ... sozusagen.

Hatte er eine Rechtfertigung für sein Verhalten? Sie bekamen damals Morddrohungen und konnten aus Sicherheitsgründen nicht länger von diesem Krieg berichten.
Er hat gesagt: "Ihre Aufgabe als Journalist war es, der Welt zu zeigen, dass die jugoslawische Armee Petrinja beschießt. Meine Aufgabe als General war es, der Welt zu zeigen, dass wir Jugoslawien retten wollen."

Wird man in dem Beruf zynisch?
Zynisch nicht, nur realistisch. Ich weiß heute, dass die Welt nicht nur aus Gutmenschen besteht und dass Gutmenschen allein die Welt nicht retten können.

Wer kann die Welt retten?
Ich glaube allmählich, die Welt muss sich selber retten.

Sie meinen, der Mensch ist dazu nicht in der Lage?
Ich bezweifle stark, dass der Homo sapiens tatsächlich eine weise Art ist. Nicht nur, dass wir mit dem Wirtschafts­fiasko völlig überfordert sind, würden wir uns, wenn wir weise wären, doch nicht gegenseitig umbringen, Tag für Tag.

Das klingt pessimistisch. Aber Sie haben 82 Länder bereist und von 14 Kriegen berichtet. Sie haben wesentlich mehr von der Welt gesehen als der "ZiB"-Konsument.
Ich habe das auch oft bedauert. Aber hier gilt das alte Bonmot eines Kollegen: "Sie dürfen in der ,Zeit im Bild" über alles berichten, nur nicht über eine Minute zwanzig.

Wir hier haben abends eine Minute und 20 Sekunden lang Krieg gesehen, Sie haben ihn 24 Stunden erlebt. Wie sehr belastet einen das?
Inzwischen haben einige erkannt, dass man nicht jeden und jede in solche Regionen schicken kann. Es gibt eine amerikanische Untersuchung, die besagt, dass ein Drittel der Reporter so schwer traumatisiert ist, dass sie Alkoholiker werden oder in andere Drogen flüchten. Das zweite Drittel sagt: "Das tu’ ich mir nie wieder an." Und das dritte Drittel meint, es wäre besser gewesen, überhaupt nie in so eine Region zu fahren.

Sie wirken nicht traumatisiert.
Ich hab’ immer gesagt, ich bin aus etwas and’rem Holz geschnitzt. Vermutlich, weil ich mein Studium als Holzfäller finanziert habe. Und weil ich all die Jahre eine Frau hatte, die mich emotional so unterstützt hat, dass ich die Kraft hatte, mir einzubilden, ich müsse mich nicht fürchten. Natürlich hab’ ich oft mehr Glück als Verstand gehabt. Aber es ist nicht wie bei anderen Kollegen, dass ich nicht schlafen kann oder vom Krieg träume.

Sie träumen nie vom Krieg?
Nein, nie. Aber ich hatte einen Kameramann, der geträumt hat, dass er inmitten von Leichenbergen aufwacht, die Kamera verkehrt hält und sich bei mir entschuldigt, dass jetzt er kein Bild zusammengebracht hat. Für ihn war nach zehn Jahren die Zeit gekommen, aufzuhören. Er hat es nicht mehr ertragen.

Sie waren nicht nur mit dem Leid der Opfer konfrontiert, sondern auch mit dem der Kollegen?
Ich nenne es die Katastrophenkarawane. Man kennt die Kollegen, man weiß, wer ein Schlitzohr ist. Wenn man, wie wir in Bosnien, gemeinsam in Kellerlöchern untergebracht ist, ohne Wasser, ohne Klo, wenn alle in denselben Topf scheißen – das verbindet. Es gibt Narren, die bewaffnet unterwegs sind. Und es gibt den legendären John Simpson von der BBC. Der hat immer sein Morphiumfläschchen dabei.

Was hatten Sie immer dabei?
Mullbinden und Wundsalben, aber das Wichtigste war Imodium (gegen Durchfall, Anm.).

In Afghanistan, 2001, hatten Sie die Ruhr. Ihre Frau hat in einem Interview erzählt, es sei für sie unerträglich gewesen, täglich im Fernsehen zu sehen, wie Sie abmagern.
Ich habe 17 Kilo verloren. Was man am Bildschirm nicht sehen konnte: Ich hatte ununterbrochen Durchfall. Ich musste berichten, dass die Situation außer Kontrolle geraten war, aber am meisten war ich selbst außer Kontrolle geraten.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Wie es einem im 64. Lebensjahr geht, ich hab’ nicht mehr alle Zähne.

Und was ist vom Krieg geblieben?
Ein paar Schrammen. Nicht von Schüssen, von Druckwellen, die einen gegen die Wand schleudern.

Es gab aber einen Streifschuss ...
Ja, aber ein Streifschuss ist nur wie eine Rasierklinge. Wäre es ein paar Zentimeter tiefer gewesen, würde ich jetzt nicht hier sitzen.

Sie sagen das so ruhig, andere würden daraus ein Heldenepos machen.
Nichts ist uninteressanter als das Privatleben eines Journalisten.

Dann bleiben wir beim Berufsleben: Das Schlimmste, was Sie je erlebt haben, waren nicht die Bombenangriffe, sondern in einem Aufzug in Bagdad eingesperrt zu sein?
Ja, so banal ist die Wirklichkeit. Im Juni 2006 hatte es in Bagdad 45 Grad im Schatten. Im Hotel gab es nur Strom aus dem Generator. Ich sprang in den Lift, um zur Schneide­einheit zu fahren. Der Generator fiel aus, ich steckte im Lift fest, und die Kabine war kaum größer als dieser Kaffeehaustisch. Es hatte 60 Grad, vielleicht 70, ich konnte nur klopfen und dachte: "Jetzt ersticke ich." Es war die totale Hilflosigkeit.

Wer hat Sie gerettet?
Mein Bodyguard, ihm verdank’ ich das Leben. Er hat das Klopfen gehört und es geschafft, binnen zehn Minuten Diesel aufzutreiben und den Generator anzuwerfen. Halb gekocht bin ich aus dem Lift gefallen.

Haben Sie je gedacht: Nie wieder!
Da darf man sich nichts vorlügen. Es ist einer der faszinierendsten Jobs. Andererseits sollte einem bewusst sein, dass man nichts Besonderes ist. Man ist ein Reporter wie jeder andere, der sich aber durch drei Dinge auszeichnen muss: durch Ehrlichkeit, Mut und Wissen. Solche Leute braucht unsere Zunft. Sonst überlassen wir den Selbstdarstellern das Feld.

Ist es nicht schon so weit?
Es gibt eine gewisse Tendenz dazu. Aber ich habe nie zu jenen Reporter-Schönlingen gehört, die mit ihren gelifteten Hodensäcken eher Unterhosenmodels gleichen.

Wie oft sind Sie um Ihr Leben gerannt?
Mit zunehmendem Alter weniger oft. Die Jungen laufen schneller, aber die Alten kennen die Abkürzungen. Bei meinem letzten Einsatz in Syrien war ich nicht mehr so töricht, weiterzugehen, wenn meine Produzentin Nein gesagt hat.

Nach diesem letzten Einsatz kam es zu den berührenden Abschiedsworten in der ZiB 2. War das geplant?
Nein, es gab eine spontane Diskussion kurz vor der Sendung. Ich sollte begründen, warum ich mit dieser Arbeit aufhöre. Es ist – und das sage ich auch hier – der Tod meiner Frau vor einem Jahr, der mich verändert hat. Ich bin ein anderer geworden.

Ihre Frau hat nie gesagt: "Bleib zu Hause!" Sie haben es gut erwischt.
Ja, ich hatte Riesenglück. Die Scheidungsrate unter Journalisten ist, glaube ich, weltweit die höchste. Ich war 38 Jahre verheiratet, 40 Jahre mit der Frau zusammen ... das kann man nicht wegwischen.

Es fehlt so viel, dass Sie nicht mehr weitermachen können?
Es motiviert einen nicht. Es ist etwas in meinem Leben weggebrochen. Das spüre ich.

Was werden Sie tun?
Ich muss jetzt mich selbst finden, innerlich zur Ruhe kommen. Das ist das Wichtigste. Und dann gibt es einige Buchprojekte.

Sie sind also nicht "Pensionist"?
Bitte nicht! Lieber Privatier, das klingt vornehmer.

Letzte Frage: Wie oft haben Sie Tolstois "Krieg und Frieden" gelesen?
Ich glaube, derzeit zum 10. Mal. Ich versuche, es in Originalsprache zu lesen. Aber das geht nicht in einer Nacht. Das ist ein Jahresprojekt.