Filmkritik zu Cannes-Gewinner "Anora": Pretty Woman in Brighton Beach
Von Alexandra Seibel
Schon Julia Roberts hat ihn geträumt – den Traum von der Prostituierten, die zur Prinzessin aufsteigt: Als „Pretty Woman“ landete sie einen globalen Kino-Hit. Über 30 Jahre ist es her, seit Roberts als Callgirl Karriere machte und in Richard Gere als Millionär ihren Prinzen fand. Damals, im Jahr 1990, ging alles noch märchenhaft gut aus. US-Regisseur Sean Baker liefert nun ein zeitgemäßes Update vom sozialen Aufstieg durch reiche Heirat: Seine „Pretty Woman“ nennt sich Ani und ist Titelheldin seiner höchst unterhaltsamen Tragikomödie „Anora“, die heuer in Cannes unter der Jury-Präsidentin Greta Gerwig mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.
Nicht zum ersten Mal beschäftigt sich der „The Florida Project“-Regisseur mit Sexarbeit; schon in seinem iPhone-Film „Tangerine L. A.“ tauchte er ins Prostituiertenmilieu von Los Angeles ein. Das Nachfolgeprojekt „Red Rocket“ hatte ebenfalls einen Ex-Pornodarsteller im Mittelpunkt. Auch bei „Anora“ macht Baker von der ersten Sekunde an klar, wo wir uns befinden: Barbusige junge Frauen rekeln sich stöhnend auf dem Schoß männlicher Bar-Besucher und lassen sich Dollarscheine in den Stringtanga stecken.
So auch die schöne Ani, die resolut ihren Kundenstock verwaltet und sich von niemandem dreinreden lässt. Weil sie rudimentäre Russischkenntnisse hat, wird ihr ein junger, superreicher Russe namens Vanya als Kunde zugewiesen.
Koksende Neureiche
Vanya findet Gefallen an ihren Moves und engagiert sie auch privat für seine Dienste. Ani übersiedelt zu ihm in das Luxusanwesen seiner Eltern und nimmt schließlich seinen Heiratsantrag an. Die Oligarchenfamilie in Moskau ist darüber not amused. Sie entsendet Vanyas Patenonkel Toros in Begleitung zweier Schlägertypen, um dem Treiben ein Ende zu bereiten.
Hauptdarstellerin Mickey Madison, bekannt aus den Serien „Better Things“ und „Scream“, legt ihre akrobatisch-erotischen Tanz-Performances so gekonnt hin, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. In Kombination mit Vanya-Darsteller Mark Eydelshteyn – eine Art russische Version von Timothée Chalamet – ergibt sich eine explosive und kurzweilige (Sex-)Dramedy im koksenden Neureichen-Milieu zwischen Brooklyn und Las Vegas. Mit fast nostalgischer Hingabe taucht Baker ins russisch-jüdische Viertel von Brooklyns Brighton Beach ein und liefert charismatisch-weiche Bilder auf analogem 35-mm-Filmmaterial. Besonders Toros und seine „Gangster“, die Englisch mit schwerem Akzent sprechen, verhalten sich so, als hätten sie zu viele Scorsese-Filme gesehen – allerdings die jugendfreie Variante. Anstelle der genre-üblichen Gewaltausbrüche versuchen sie es mit gutem Zureden. Einer von ihnen lässt sich von der tobenden Ani sogar die Nase brechen, ehe der andere sie mit dem Telefonkabel „fixiert“.
Mit ganzem Herzen auf der Seite seiner Protagonistin, treibt Baker die Handlung temperamentvoll und vergnüglich vor sich her. Zwar lassen sich Klassengegensätze nicht mehr so leicht durch romantische Liebe überbrücken wie noch Anfang der 90er-Jahre. Doch am Ende darf auch die moderne Cinderella erfahren, dass manche Zuwendungen einfach gratis sind.
INFO: USA 2024. 139 Min. Von Sean Baker. Mit Mickey Madison, Mark Eydelshteyn, Juri Borissow.