Kultur

Filmfestival Venedig: Endloser Sommer, düstere Zukunft

Und wieder gab es Buhrufe in Venedig. Nach Darren Aronofskys Fiebertraum-Horror "mother!", traf es diesmal Goldene-Palme-Gewinner Abdellatif Kechiche: Dessen dreistündiges Jugend-Nostalgie-Bad "Mektoub, My Love: Canto Uno" stieß nicht auf einhellige Zustimmung. Stattdessen entwickelte es in endlosen Szenenwiederholungen eine Intensität, die in ihrem Effekt auf den Betrachter zwischen aufregend und nervtötend schwankte.

Bereits 2013 hatte der tunesisch-französische Regisseur in Cannes mit "Blau ist eine warme Farbe" – einer Geschichte über die zerbrechende Liebe zweier junger Frauen – mit ausufernden Sexszenen das Publikum gespalten. Auch in "Mektoub, My Love" neigt Kechiche zur obsessiven Beobachtung, allerdings begleitet er diesmal eine Gruppe Jugendlicher – teilweise mit arabischen Wurzeln – bei ihren Ausflügen in Bars, Pubs und Discos.

Am Strand liegen, Schwimmen, Abhängen, Tanzen, Küssen, Sex haben – Kechiche beschwört einen goldenen Moment multikultureller Selbstverständlichkeit abseits politisch oder religiös motivierter Identitätskrisen.

Mit der ihm eigenen Distanzlosigkeit und Ausdauer beobachtet der Regisseur, wie die jungen Menschen – vor allem Frauen –, in der Disco lustvoll ihren Hintern schwingen. Leidenschaftlich klebt er seinen Kamerablick auf Hüften und Haare, kann sich nicht abwenden von den jungen, bewegten Körpern.

Immer wieder gelingt es ihm dabei, deren anarchische Energie einzufangen, produziert in seiner Unersättlichkeit aber auch mühsame Redundanz und Erschöpfung.

Dass sich Abdellatif Kechiche mit "Mektoub, My Love" als ernsthafter Favorit für den Goldenen Löwen profilieren konnte, der am Wochenende unter dem Vorsitz von Annette Bening vergeben wird, scheint nahezu ausgeschlossen.

Selbstkorrektur

So viel aber lässt sich jetzt schon sagen: Festivalchef Alberto Barbera hat in seinem Programm-Parcours klare thematische Schwerpunkte gesetzt und dadurch schöne Beobachtungsspuren gelegt. Wie kommunizierende Gefäße greifen die Filme auf ähnliche Themen zu und werfen von unterschiedlichen Seiten ihr Licht auf sie.

So spielte beispielsweise die Sorge um das katastrophale Ausmaß der Umweltzerstörung und der globalen Erderwärmung in Alexander Paynes Schrumpfkomödie "Downsizing" ebenso eine entscheidende Rolle, wie in Paul Schraders Pastoren-Martyrium "First Reformed" oder Aronofskys Beziehungsapokalypse "mother!"

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Auch aus österreichischer Perspektive gibt es einen düsteren Blick in die Zukunft: Ruth Maders dystopischer Krimi "Life Guidance" – programmiert in der Sektion "Giornate degli Autori" – verwandelt Wien in ein kaltes Pflaster fieser Klassengegensätze. Der Gemeindebau dient als Schlafhochburg für die Unterschicht, kühle Villen beherbergen die Großverdiener. Fritz Karl als elitärer Top-Manager gerät in die Krise, als ihm ein sinister grinsender Vertreter einer Versicherungsagentur namens "Life Guidance" seine Hilfe zur "Selbstkorrektur" anbietet. Ruth Mader entwirft in starren, streng komponierten Bildern die Vision einer inhumanen Kontrollgesellschaft – als unterkühlten und bewusst leblosen Thriller.
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