Kultur

Familienaufstellung im Hause Lear

Shakespeares späte Tragödie „König Lear“ (uraufgeführt 1606), basierend auf historischen und sagen-haften Quellen, ist seine brutalste: Hier gibt es keinen Funken Hoffnung mehr, am Ende bleibt nur Leere.

Gleichzeitig ist das Leid des verblendeten König Lear (und das seines geblendeten Getreuen Gloucester) packend, ergreifend, zutiefst erschütternd.

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Shakespeare zeigt menschliche Schicksale in ihren härtesten Ausprägungen, anhand eines dysfunktionalen Familienclans. Hier der Versuch einer Familienaufstellung:

König Lear: Macht den gleichen Fehler wie viele reiche, sture, alte Leute: Fordert unter Verweis auf das große Erbe (er verstand offenbar etwas von Wirtschaft) von seinen Nachkommen bedingungslose Liebe ein und bekommt Heuchelei. Verstößt die einzige Tochter, die ihn wirklich liebt. Zieht sich schließlich beleidigt zurück, nicht nach Kanada, sondern in die wüste Heide. Es gibt kaum eine andere Theaterfigur, die so grausam tief stürzt: Vom mächtigen Herrscher, der weiß, wie man Löhne zahlt, zum verstoßenen Wahnsinnigen, der alles verliert. Manche moderne Interpreten meinen, Shakespeare zeige anhand von Lear alle Stadien des Verfalls im Zuge von Altersdemenz.

Goneril und Regan: Die bösen Töchter, ohne Moral, Anstand und Sitte. (Regan ist sogar noch eine Spur böser und vor allem unanständiger.)Laborieren offenbar an frühkindlichen Zurückweisungstraumata, weil die jüngere Schwester mehr geliebt wurde. Verstoßen den Vater, bringen jedem, der ihren Weg kreuzt, Unheil. Schließlich tötet Goneril zuerst Regan und dann sich selbst. Hätte es damals schon Gesprächstherapie gegeben, alles wäre vielleicht anders ausgegangen. Andererseits wäre dann das Stück fad.

Cordelia: Die gute Tochter. Liebt den Vater ehrlich, ist selbstlos, aufrichtig und gut, also ein bisschen langweilig, findet trotzdem einen guten Mann, der noch dazu König von Frankreich ist. Wird, weil Shakespeare in diesem Stück wirklich gar keine Gnade kennt, und der rettende Bote wie so oft zu spät kommt, am Ende gehängt.

Die Herzöge von Albany und Cornwall, Lears Schwiegersöhne: Werden es noch bitter bereuen, in diese kaputte Familie eingeheiratet zu haben.

Der Graf von Gloucester: Oberhaupt der nächsten dysfunktionalen Familie. Steht treu zum König, vertraut dem falschen Sohn und wird grausam erniedrigt. Darf offenbar nicht sterben: Er überlebt einen Suizidversuch, einen Mordversuch und die Tatsache, dass ihm beide Augen ausgestochen werden.

Edmund: Gloucesters böser, naturgemäß unehelicher Sohn. Eine hemmungslos böse Schurkengestalt – bei ihm wäre vermutlich auch Therapie sinnlos gewesen, er hätte eher den Therapeuten ermordet. Ohne ihn wäre das Stück nur halb so großartig.

Edgar: Gloucesters guter, naturgemäß ehelicher Sohn. Wird verleumdet und muss sich unter falschem Namen in der Heide verstecken, wo zum Glück für ihn ständig der berüchtigte englische Nebel wabert. Kann sich rehabilitieren, den Vater retten, den bösen Bruder im Duell töten und erbt schließlich möglicherweise das Reich. Wobei nicht mehr viel da ist, was sich zu erben lohnt.

Der Narr:Sein Hofnarr begleitet Lear durch Sturm und Wahnsinn und sagt ihm verdrehte Wahrheiten, die dieser lange Zeit nicht versteht. Ist also quasi der Therapeut, wenn auch deutlich billiger.

Kent: Gutherzig bis an den Rand des Schwachsinns – wird von Lear verkannt und verstoßen und dient ihm unter neuer Identität weiter. Leidet unter unheilbarem Helfersyndrom.

Oswald:Gonerils Diener, Regan sexuell hörig. Übeltäter und gleichzeitig selbst Opfer. Ein gefundenes Fressen für Kriminalpsychologen.