Eshkol Nevo: "Große Sehnsucht nach Frieden in Israel"
Von Susanne Lintl
Drei Menschen in einem mehrstöckigen Wohnhaus in Tel Aviv erzählen von ihrem Leben. Ihren geheimen Wünschen, ihren Irrwegen, ihrer Einsamkeit. Lassen dabei tief in ihre Seele blicken.
Eshkol Nevo, studierter Psychologe und Enkel des dritten israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol, arbeitet sich in seinem humorvollen und fast zärtlichen Roman „Über uns“ von Etage zu Etage durch: vom überforderten Ehemann im ersten Stock über die von ihrem Mann vernachlässigte Frau im zweiten bis zur pensionierten Richterin mit Sendungsbedürfnis im dritten.
In der Wiener Galerie Charim stellte Nevo das Buch vor.
KURIER: Ihre drei Erzähler vermitteln den Eindruck, als wären sie sehr einsam, obwohl sie nicht alleine sind. Eine Anspielung auf die soziale Kälte in den Häusern der Großstadt?
Eshkol Nevo: Ich finde es schön, dass Sie das beim Lesen gespürt haben. Ja, meine Protagonisten fühlen sich einsam ... und das, obwohl sie in einem sozialen Umfeld, in ihrer Familie, eingebettet sind. Sie alle haben ein Geheimnis, das sie einsam macht. Etwas, das sie mit niemandem teilen können. Als ich das Buch schrieb, verspürte ich das dringende Bedürfnis, in ihrem Namen zu bekennen. Alles raus zu lassen, was endlich gesagt werden musste. Dafür habe ich alle ästhetischen Prinzipien des Romanschreibens ignoriert: Normalerweise sind meine Romane ja lang, penibel recherchiert und richtig durchkomponiert. Hier habe ich einfach drauflos geschrieben und konnte nicht mehr aufhören. Es war wie ein Zwang.
Freuds Erkenntnisse und Schriften spielen in „Über uns“ eine nicht unwesentliche Rolle. Sind Sie bekennender Freudianer?
Meine Eltern waren Psychologen, daher bin ich quasi mit den Werken Sigmund Freuds aufgewachsen. Ich habe mich oft in der Toilette verschanzt mit einem Buch von Freud, weil meine Eltern fanden, dass ich noch nicht alt genug dafür bin. Natürlich war ich fasziniert von seinen Thesen. Penisneid, Traumdeutung, Über-Ich. Später habe ich dann selbst Psychologie studiert und hatte in diversen Debatten auch meine Probleme mit Freud. Er stellt immer eine Person in den Mittelpunkt, aber das Leben ist doch etwas, das auf Beziehungen aufbaut. Ein Mensch ist keine Insel. Da konnte ich ihm nicht zustimmen.
Ihre Protagonisten scheinen das Gefühl der Klaustrophobie gut zu kennen. Fühlen sie sich beengt in einem Land, das nur von Feinden umgeben ist?
Jede Interpretation meines Buchs ist legitim. Aber ich habe beim Schreiben nicht an die klaustrophobischen Momente in der israelischen Gesellschaft gedacht, sondern nur an jene in einer Familie. Natürlich sind wir in
Israel von Raketen bedroht, von Attentätern, und haben eine Menge sozialer Probleme. Israel ist kein normales Land – der Alltag geht an die Substanz, an deine Seele. Aber mein Buch ist kein Buch über das Land, sondern über universelle Themen, in denen sich möglichst viele Menschen wiederfinden sollen.
Sie sind ein politischer Mensch, engagieren sich für den
Frieden und gegen Korruption in der israelischen Politik. Was ist Ihre Meinung zu den jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, die ja eines der größten Hindernisse für den Friedensprozess darstellen?
Die Siedlungen sind ein Symptom. Ein Symptom dafür, dass wir nicht fähig sind, einen Kompromiss mit den Palästinensern zu finden. Wenn es wirkliche Bemühungen für einen Frieden gäbe, dann würde die Mehrheit der Israelis diese unterstützen. Davon bin ich überzeugt. Auch territoriale Deals: Manche Siedlungen würden bleiben, andere müssten verschwinden. Dort, wo man die Menschen nicht mehr absiedeln könnte, müsste man den Palästinensern anderes Land anbieten. Alles wäre machbar, wenn man nur wollte. Aber nicht mit den derzeit Regierenden! Es gibt eine große Sehnsucht nach Frieden in Israel, aber mit denen, die jetzt an der Macht sind, kann diese nicht erfüllt werden. Diese Personen wollen Unfrieden stiften und sind auch bereit, den Preis dafür zu zahlen. Den weltweiten Preis, die weltweite Kritik. Aber ich bin optimistisch: Die Zeit wird erweisen, dass Frieden möglich ist. Jeder von uns muss dafür kämpfen, den Mund aufmachen, es wollen.
Eshkol Nevo:
„Über uns“
Übersetzt von Markus Lemke.
dtv.
320 Seiten.
22,70 Euro. ****
KURIER-Wertung: