Kultur

Das Leben als Karikatur

Die Möwe" ist wie alle Dramen von Anton Tschechow eine "Alltagsgeschichte." Zum Brüllen komisch, zum Brüllen traurig. Es geht um das Leben und darum, wie es sich mit jedem Tag mehr von den Lebenden zurückzieht, wie es verdunstet, langsam verschwindet. Es geht um all die unendlich vielen Möglichkeiten, die das Leben verspricht, und darum, wie es eine Möglichkeit nach der anderen ins Lächerliche schrumpfen lässt.

Alle in diesem Stück trauern um die Zukunft, die sie hinter sich haben. Da ist der Lehrer, der so gerne Philosoph geworden wäre und die Welt verändert hätte. Jetzt bleibt ihm nur das wehleidig aufdringliche Jammern über sein karges Gehalt (die Parodie auf bestehende Verhältnisse wird vom Publikum als solche erkannt und ausgiebig belacht; Peter Knaack spielt diese Figur wunderbar reduziert).

Minipli

Da ist der Arzt, der ein Frauenheld wurde und nie die Liebe fand, jetzt wird er alt, viel mehr als eine peinliche Minipli-Frisur, Zynismus und eine säuselnde Stimme sind ihm nicht geblieben (wie toll spielt das Martin Reinke!).

Faszinierend ist die Figur des Sorin: Künstler wollte er sein, Jurist ist er geworden, das Stadtleben wollte er genießen, jetzt ist er in der Provinz verloren gegangen. Jetzt hat er Angst vor dem Tod, weil er spürt, wie das Leben langsam aus ihm weicht. Ignaz Kirchner stellt den Sorin gespenstisch und packend dar, als Mensch am Rande des Verschwindens – sein Sorin erinnert an eine andere Tschechow-Figur, an die des uralten Dieners Firs, die Kirchner vor neun Jahren in Andrea Breths "Kirschgarten"-Inszenierung.

Und die Liebe? Ist die eine Möglichkeit?

Vor dem Amoklauf

Theoretisch ja. In der Realität aber dient sie nur dazu, die Menschen vollends lächerlich zu machen – weil hier jeder den Falschen oder die Falsche liebt. Alle lieben, niemand wird zurückgeliebt. Am grausamsten zeigt sich das an der Figur der Mascha: Sie liebt Kostja, den Sohn des Hauses, der sie nicht einmal bemerkt. Also heiratet sie den Lehrer, der sie hündisch verehrt und den sie erbarmungslos demütigt. Mavie Hörbiger spielt die Mascha als abgründiges Emo-Girl im schwarzen T-Shirt, das ständig Tabak (oder Kokain?) schnupft – wie eine Amokläuferin zwei Tage vor dem Amoklauf. Großartig!

Szenenfotos aus "Die Möwe"

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Hier sind wir schon bei der größten Stärke dieser am Premierenabend vom Großteil des Publikums demonstrativ bejubelten Aufführung: den Schauspielern. Und dabei haben wir erst von den Nebenrollen gesprochen!

Die größte Schwäche des Abends leistet sich leider der Regisseur, der sprudelnd kreative Jan Bosse. Als "Komödie" überschrieb Tschechow sein Stück. Und das ist natürlich ein Witz: In Wahrheit ist das Stück tief traurig. Im verzweifelten Kampf um Erhabenheit und Bedeutung oder wenigstens eine Ahnung von Glück machen sich Menschen zutiefst lächerlich – eine bittere Pointe. Das Einzige, was ihnen bleibt: Andere zu vernichten. So fressen die beiden alten Hauptfiguren – die Schauspielerin Arkadina und der Schriftsteller Trigorin – in ihrem egomanischen Selbsthass die nächste Generation.

Bosse hingegen lässt den Text tatsächlich als Komödie spielen, zeigt die Figuren von Anfang an als lächerlich. Dadurch werden sie uninteressant. Auch die Durchsetzung des Textes mit Alltagssprache macht uns die Figuren nicht vertrauter, sondern nur banaler. Zudem lässt Bosse – wohl auf die enormen komödiantischen Fähigkeiten seiner Darsteller vertrauend – in den ersten drei Akten eine Art Wettbewerb in jener Sportart veranstalten, die die Amerikaner "over-acting" nennen. Siegerin im virtuosen Übertreiben ist naturgemäß Christiane von Poelnitz als alternde Schauspielerin Arkadina, die ihr ganzes enorme Repertoire abrufen darf (oder muss).

Der großartige Michael Maertens als sich selbst zutiefst hassender Trigorin deutet an, was möglich gewesen wäre. Aenne Schwarz als vom großen Erfolg träumende Jungschauspielerin Nina ist vor allem im Schlussakt hinreißend gut. Daniel Sträßer als Jungautor leidet sehr schön an seinem Mutterkomplex, findet darüber hinaus aber wenig.

Gekürzt

Der Regisseur hat den Text drastisch auf zweieinhalb Stunden gekürzt, dabei gehen aber manche Nebenfiguren – etwa das Gutsverwalter-Ehepaar oder der Lehrer – fast zur Gänze verloren.

Fazit: Ein Regisseur will seine Figuren an die Karikatur verkaufen, seine großartigen Schauspieler retten sie zumindest zum Teil vor diesem Schicksal. Luc Bondys atemberaubend gute, sehr ernsthafte Inszenierung von 1999 am selben Ort (mit Gert Voss, Jutta Lampe, August Diehl, Johanna Wokalek) bleibt unerreicht.

KURIER-Wertung:

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