Die Kritiken des Wochenendes: Bernsteinaugen, eine Schwester und die Philharmoniker
Ein überaus kostbares Kleinod an der Volksoper
Es muss nicht immer die große Show, die funkelnde Revue oder die gigantische Ausstattungsschlacht sein, um das Publikum letztlich glücklich zu machen. Es geht auch kleiner, feiner und nuancierter, um eine größtmögliche Wirkung zu erzielen.
Das beweist die Wiener Volksoper mit ihrer Neuproduktion von Ralph Benatzkys 1930 in Berlin uraufgeführter so genannter Kammeroperette „Meine Schwester und ich“ in geradezu exemplarischer Weise. Sicher, es gibt kein Ballett, keine riesigen Ensembles, keine Chöre und auch keine Massenszenen. Stattdessen setzte Benatzky (mit seinem Co-Autor Robert Blum) auf einen schmalen Orchesterapparat und eine Vorlage, die an einen Georges Feydeau oder einen Eugène Labiche erinnert.
Eine klassische Boulevardkomödie (tatsächlich stand ein Stück der Herren Georges Berr und Louis Verneuil Pate), bei dem die Musik trotz einiger Hits eher begleitend zum durchaus turbulenten Geschehen eingesetzt wird.
Worum geht es? Um die reiche Prinzessin Dolly, die sich in ihren sozialromantischen Angestellten Roger verliebt. Dieser erwidert ihre Liebe zwar, hält den Standesunterschied aber für unüberwindbar. Worauf Dolly eine arme Schwester erfindet, die natürlich sie selbst ist, und in die sich Roger unsterblich verliebt. Denn hier stehen Geld und Titel ja nicht im Wege. Also ein Happy-End?
Für die Volksoper auf jeden Fall. Denn mit „Meine Schwester und ich“ hat man nun ein entzückendes Kleinod im Repertoire, das nur eines will: Unterhalten!
Das gelingt – stückbedingt – vor allem im zweiten Teil bestens. Denn Hausherr Robert Meyer hat mit viel Liebe zum Detail und noch mehr Zug zu den Pointen inszeniert; Christof Cremer hat mit einer riesigen Bibliothek sowie einem ebenso riesigen Schuhgeschäft eine extrem geschmackvolle Ausstattung geschaffen. Dazu sorgen schöne Lichteffekte und passende Kostüme für das richtige Flair der 30-er Jahre.
Große SpielfreudeUnd die Besetzung kann sich sehen und hören lassen. So ist Lisa Habermann eine auch vokal hinreißend noble Dolly, die als ihre Pseudo-Schwester aber auch jeden Gag perfekt bedient, um ihren Roger um den Finger zu wickeln. Diesen stattet Lukas Perman mit dem Charme eines jungen Clark Gable aus; das gemeinsame „Ich lade Sie ein, Fräulein“ besitzt Ohrwurm-Qualität.
Als Buffopaar brillieren Johanna Arrouas als quirlige Verkäuferin Irma mit Hang zum Varieté und Carsten Süss als ungarischer Graf Lacy. Julia Koci, Nicolaus Hagg sowie Georg Wacks und der Jugendchor füllen ihre Rollen tadellos aus; als etwas schusseliger Schuhhändler Filosel holt sich Herbert Steinböck alle Pointen. Und Guido Mancusi sorgt am Pult des guten, jazzigen Orchesters für den adäquaten Sound.
Berechtigter Jubel für alle Beteiligten! So soll es sein. Peter Jarolin
Ein Bestseller auf der Bühne in Linz
Edmund de Waal, Autor des Weltbestsellers „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ (2011), war Samstag sichtlich beglückt. Die Besucher des im Linzer Schauspielhaus uraufführten Musicals waren es auch – und konnten es sein.
Denn das Auftragswerk des Landestheaters Linz überzeugt – trotz mancher Mängel wie dem etwas langatmigen Beginn und einem bemerkenswert lauen Finale – vor allem durch eine großartige Ensemble-Leistung.
Ideenreich und inspiriert: die Regie von Henry Mason. Ihm ist auch als Librettist das Kunststück gelungen, die überaus komplexe Geschichte der jüdischen Bankiersfamilie Ephrussi, einst reich wie Rothschild, über Generationen und zeitliche wie geografische Grenzen über Wien, Paris bis Tokio hinweg in klug arrangierte Szenen zu kleiden. Mit gut nachvollziehbaren Verschränkungen und Rückblenden. Seine Lyrics sind dabei von außerordentlicher Qualität.
Der Südtiroler Christof Messner, mehrfach ausgezeichneter Schauspieler und in guter Erinnerung u. a. vom Bowie-Musical „Lazarus“, ist als Erzähler die perfekte Besetzung: Wenn es ums das Tragische, Dramatische und Anekdotische im Leben der Vorfahren von Edmund de Waal geht, die Enteignung und Vertreibung erfahren mussten. Also wenn – nach Vergil – von den „Tränen der Dinge“ zu erzählen ist. Von großen politischen Ereignissen und Kleinoden wie der Sammlung geschnitzter Figuren aus Elfenbein: 264 japanischen Netsuke.
Die Musik – Christopher Mundy leitet ein 12-köpfiges Ensemble – ist der größte Schwachpunkt der Produktion. Da liegt der Hase im Pfeffer, um im Sprachbild zu bleiben.
Denn während bei Benatzky, Sondheim oder beim lange viel geschmähten Webber garantiert jeder mit mindestens einer Melodie im Ohr aus der Vorstellung geht, bleibt hier: Nichts.
Wenigstens ein Signature-Song? Nein, den gibt es nicht.
Solides Handwerk Geboten wird zum Kaleidoskop der Emotionen musikalisch illustrativ ein gefälliger Mix aus Klassik, Chanson, Schlager, Easy Listening und Walzer-Zitaten. Kurzum: nur Triviales, nichts Originelles. Kein Ohrwurm, nichts Hitverdächtiges.
Dabei ist Thomas Zaufke – und das zeigt das Dilemma einer ganzen Branche – der derzeit gefragteste Komponist auf deutschen Bühnen mit langer Werkliste, die überregional allerdings kaum jemand kennt. Zaufke mag besser sein als andere Musikschaffende. Aber in der Oberliga des Genres ist er deshalb noch nicht angekommen.
So ist „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ – in einer Überlänge von derzeit drei Stunden – auf der Bühne kein Kunst-, sondern pures Handwerk. Aber mit diesem Ensemble, mit diesem Regisseur und Texter: Immerhin. Werner Rosenberger
Warten auf einen Meilenstein: Nelsons und die Philharmoniker mit Beethoven
Kritik. Beethoven hier, Beethoven dort, Beethoven allerorts – das Jahr 2020 wirft seine Schatten schon längst voraus. Dann nämlich gilt es, den 250. Geburtstag des Genies würdig zu feiern. Im Fall der Wiener Philharmoniker geschieht das mit einer Gesamteinspielung aller Symphonien (und anderer Werke) des Komponisten unter der Leitung des lettischen Dirigenten Andris Nelsons.
Ein weiterer Meilenstein in der philharmonischen Geschichte also? Bis dato leider nicht so ganz. Denn selbstverständlich ist mit den Philharmonikern ein Weltklasse-Orchester zu erleben, das Beethoven wirklich intus hat.
Andris Nelsons aber hat seinen Zugang zu Beethoven noch (?) nicht gefunden. Das war erst vor kurzem bei der vierten und fünften Symphonie im Musikverein zu hören; dies wiederholte sich am Wochenende auch bei der ersten Symphonie in C-Dur sowie der zweiten in D-Dur.
Sicher: Da waren bei der ersten deutliche Verweise auf Haydn und Mozart zu hören; das Revolutionäre in Beethovens Musik sparte Nelsons jedoch aus. Besser gelang ihm – trotz eines sehr öden Larghetto – die zweite Symphonie.
Wie auch das „Tripelkonzert“ – trotz des exzellenten Starpianisten Rudolf Buchbinder, Konzertmeisterin Albena Danailova sowie Cellist Tamás Varga – mehr Mut vertragen hätte. Peter Jarolin
Für die Ewigkeit: Teodor Currentzis begeistert mit Verdis „Requiem“
Auch am Samstag, bei der zweiten Aufführung von Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ im Großen Saal des Konzerthauses, vermittelte Teodor Currentzis seinem enthusiasmierten Publikum das Gefühl, einem singulären Ereignis beizuwohnen. Derart spannungsgeladen hatte man das Werk, 1874 im Mailänder Dom uraufgeführt, nie zuvor gehört.
Statt eineinhalb Stunden brauchte der griechische Dirigent nur 85 Minuten. Doch er trieb seine musicAeterna-Gefolgschaft in Mönchskutten (Chor und Orchester der Oper Perm) nicht nur zitternd, bebend, rudernd an: Er kostete jedes Pianissimo bis zum Gehtnichtmehr aus.
Allein schon der choralartige Beginn („Requiem aeternam“)– ganz leise, unendlich zart – nahm gefangen. Gleich darauf folgte der Tag des Zornes („Dies irae“) mit unglaublichen Brachialität. Derart heiß-kalt ging es weiter, Sopranistin Zarina Abaeva gab von der Orgelempore engelsgleich Hoffnung. Jubel ohne Ende. Man hätte nur über ein einziges Detail streiten können: Warum „luceat“ nicht „luzeat“ oder „lukeat“ gesungen wird, sondern „lutscheat“. Thomas Trenkler