Kultur

Die Großfamilie der "Zehntelbrüder"

Diese Frau hat keine Angst. Keine Angst, konkret zu werden. Obwohl Kritiker gern (und zu Recht) die Musikalität ihrer Sprache betonen: Ruth Cerha geht es in "Zehntelbrüder" in erster Linie ums "Was", weniger ums "Wie". Es geht um eine gute Geschichte, und die ist so spannend und uneitel erzählt, dass man das Buch bis zum Schluss nicht aus der Hand legen möchte. Mischa, ein junger Wiener DJ, kann sich nicht dazu durchringen, sich auf seine Freundin Hannah einzulassen. Ihre Familie mag er nicht kennenlernen, dazu ist seine eigene kompliziert genug. Wie sehr, das macht der 23-jährige Ich-Erzähler zum Hauptthema des Romans.

Kinderleben

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Mischas junges Kinderleben beginnt in der Küche eines Gasthauses in Favoriten, wo seine knapp volljährige Mutter, Ausreißerin aus wohlhabender Familie, Köchin ist. Mutter Margit heiratet Janek, der bereits zwei Söhne hat, und bekommt einen weiteren Sohn mit ihm. Er wird später zum Problemkind. Mit den Stiefbrüdern macht Mischa keine schönen Erfahrungen. Sie unterhalten sich nur schreiend und stecken Mischa in den Mistkübel. Wir sind hier nicht bei den Waltons. Es ist keine idyllische Großfamilie. Margit verlässt die Familie, Mischa wächst mit Halb- und Stiefbrüdern bei Janeks neuer Frau auf. Jenny, Kindergärtnerin, eine Seele von einem Menschen. Und dann spielt noch Janeks Ex eine Rolle. Und seine Zukünftige. Es wird kompliziert. Das mit den "Zehntelbrüdern" stimmt zwar mathematisch nicht, aber es kommt gefühlsmäßig hin. Die Großfamilie wird immer verästelter. Mischa, dem es als Schulabbrecher gelingt, seinen Weg als DJ und später Radio­moderator zu finden, ist für seine jungen Jahre ein patenter Mensch. Da liegt auch das zarte Problem dieses schönen Buches: Sein Protagonist ist zu gut. Zu vernünftig, zu selbstkritisch. Der kleine Bruder, die jüngeren Schwestern – sie bleiben seine Angelegenheit. John Boy Walton. Aber vielleicht hat "John Boy" Mischa keine andere Wahl, als ein Kümmerer zu sein.

Geschickt flicht Ruth Cer­ha Erzählstränge ineinander, einer besteht aus Rückblenden, der andere beschreibt die Gegenwart, am Ende finden sie zu einander. Sie erzählt uneitel und konkret. Man wohnt in Ottakring, geht ins Roxy, steht beim Billa an der Kassa und schreibt SMS. Banal wird es nie.

KURIER-Wertung: **** von *****

Musik

Worum geht es? Darum, dass Familie nicht unbedingt mit Blutsverwandtschaft zu tun hat. Und um Musik: Ruth Cer­ha, geboren 1963 in Wien als Tochter des Komponisten Friedrich Cerha, hat viel Ahnung von Musik; und von Psychologie. Sie studierte beides, war in beiden Genres tätig. Als Autorin zehrt sie von den Erfahrungen.