Kultur

Das Märchen von der Überbevölkerung

Eigentlich zog er aus, um einen Film über das Problem der Überbevölkerung zu drehen. Nach fast vier Jahren erscheint nun eine Dokumentation, die das Gegenteil beweist. „Population Boom“ (Kinopremiere am 20. 9.) räumt mit dem Märchen von zu vielen Menschen auf unserem Planeten auf und „ist ein Aufruf, aktiv zu werden“, sagt Regisseur Werner Boote. „Boom bedeutet ja auch Aufschwung“. (Siehe Interview weiter unten)

Nach seinem großen Kinoerfolg von „Plastic Planet“ 2009 bereiste der neugierige Dokumentarist unseren Planeten, um über das vermeintliche Horrorszenario zu berichten. Nach vier Jahren ist er der Meinung von John Lennon, der 1971 in einem Interview sagte: „Ich glaube nicht an Überbevölkerung.“ Worauf der Journalist milde lächelnd den Kopf schüttelte. Damals lebten fünf Milliarden Menschen auf der Erde, heute sind es sieben. Und wir haben immer noch alle Platz.

Richtige Verteilung

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Boote möchte, dass das Kinopublikum mitdenkt und mitzweifelt.

Wenn man erfährt, dass allein das Pentagon täglich mehr Erdöl verbraucht als ganz Schweden.

Oder, dass alleine der Sudan, wäre er ein intakter Staat, das Potenzial hätte, eine Milliarde Menschen zu ernähren.

Oder, dass selbst dann, wenn alle derzeit lebenden Menschen nach Österreich gebracht würden, allen noch durchschnittlich 11 m² zur Verfügung stünden.

So verwandelt sich die Geschichte von dem Überbevölkerungsproblem für den Filmemacher immer mehr zu der Frage nach Verteilungsgerechtigkeit und dem starken Verdacht, dass der Kern dieses Problems im Unwillen westlicher Vermögenseliten besteht, armen Nichtwestlern das gleiche Recht auf Leben und Sicherheit zuzugestehen wie sich selbst.

Der KURIER konnte den Film, gemeinsam mit Maria Rita Testa vom Wittgenstein Centre for Demography, schon vor dem Kinostart sehen. „Der Film hat eine klare Botschaft, der ich zustimme.“ Prognosen wie schnell die Bevölkerung wachsen wird, können Demografen höchstens für zwei, drei Jahrzehnte vorhersagen, „weil die Kinder, die dann Frauen sind, jetzt schon geboren sind“. Testa schätzt, dass 2050 ungefähr zwei Milliarden Menschen mehr auf der Erde leben. Auch auf die Frage, wie viele Menschen die Welt verträgt, können Experten keine Antwort geben. „Die Frage ist, was das optimale Verhältnis zwischen Bevölkerung und Ressourcen ist. Das Problem ist nicht die Überbevölkerung, sondern die Verteilung“, sagt Testa.

Panik machte 1798 erstmals der britische Ökonom Thomas R. Malthus, der meinte, dass die Nahrungsmittelproduktion nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten könne. Damals gab es eine Milliarde Menschen.

Der Regisseur ist davon überzeugt, dass Hunger, Armut, Umweltverschmutzung und Ressourcenknappheit „nicht die Folge des Bevölkerungswachstums sind“. Weltweit werden genug Lebensmittel produziert, um die gesamte Menschheit – sieben Milliarden – ernähren zu können. Auf der einen Seite hungert weltweit eine Milliarde Menschen. Auf der anderen Seite sind 1,5 Milliarden übergewichtig. Boote: „Der ökologische Fußabdruck nimmt in den Ländern am meisten zu, in denen die Bevölkerung am wenigsten wächst. Das Problem ist also nicht das Bevölkerungswachstum, sondern die Art, wie wir leben.“ Es sei auch nicht die Überbevölkerung in Entwicklungsländern für den Klimawandel verantwortlich, sondern das Produktions- und Konsumsystem des Westens.

Bildung als Lösung

Der Wiener Bevölkerungsforscher und Wittgenstein-Preisträger Wolfgang Lutz, den Boote in seinem Ferienhaus im dünn besiedelten Finnland besuchte, ist der gleichen Meinung: „Es gibt nicht zu viele Menschen, sondern zu viele Menschen mit zu wenig Bildung.“ Bildung sei der Schlüssel zum Erfolg. Studien zeigen, dass der Zugang von Mädchen zu Bildungseinrichtungen einen enormen Einfluss hat, jedes Jahr in Ausbildung verringert die Kinderzahl einer Frau um zehn Prozent.

Am Ende einer langen Reise erfährt Regisseur Werner Boote in Bangladesch einen Glücksmoment: Er steht auf dem Dach eines Zuges inmitten der dicht gedrängten Menschenmenge und erlebt, wie die Reisenden einander halten und im Tunnel gegenseitig die Hand schützend auf den Kopf des Nachbarn halten. „Ich weiß, dass es nicht darauf ankommt, wie viele wir sind, sondern wie wir miteinander umgehen.“

Info: Am 17. Oktober wird „Population Boom“ im neuen WU-Campus gezeigt. Anschließend gibt es eine öffentliche Diskussion mit Werner Boote und Prof. Wolfgang Lutz.

Ein Mal um die Welt: Bootes „Entdeckungsreise“

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Seine Recherchen für „Population Boom“ führten Filmemacher Werner Boote quer über den Globus – von Nord- über Mittelamerika, Afrika, Europa bis nach Asien. Eine Reise-Chronologie:

New York City Boote startet seine Reise im Oktober 2011 – an jenem Tag, als die UNO verlautbart, dass ab sofort sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben. Die Rede von Generalsekretär Ban Ki-moon ist eher von Sorge als von Optimismus getragen.

Mexiko City In der Hauptstadt trifft der Regisseur einen Rechtsanwalt, der Mexiko 1974 bei Verhandlungen zur Reduktion der Bevölkerung vertrat.

Peking Kurz vor ihrer Hochzeit spricht Boote mit einer jungen Braut, die die Ein-Kind-Politik selbstverständlich akzeptiert, aber erst dann lächelt, als sie erklärt, dass die Kombination aus Mädchen und Junge in China „gut“ bedeutet.

Mumbai In den Slums der indischen Großstadt besucht Boote eine kinderreiche Familie. Mit dem Slogan „We two and our two“ wollen Politiker erreichen, dass hier bald nur noch zwei Kinder pro Familie zur Welt kommen.

Kenia Im Gespräch bezeichnet ein Buchautor die Geburtenreduktion in Afrika als ein großes Risiko. Nach dem Besuch einer einfachen Entbindungsstation lässt sich Boote von einem Massai-Krieger in sein extrem dünn besiedeltes Land führen.

Japan Hier wird klar, was Urbanisierung bedeutet: In der Hauptstadt Tokio leben 40 Millionen Menschen, in einem nahe gelegenen Dorf musste eine Schule mangels Kinder geschlossen werden.

Finnland Via Holzboot gelangt der Regisseur auf eine kleine Insel, wo der österreichische Bevölkerungsforscher Wolfgang Lutz sein Feriendomizil hat.

Bangladesch Die letzte Szene ist wohl auch die eindrucksvollste: Auf dem Dach eines unglaublich überfüllten Zugs halten die Menschen einander fest, damit niemandem etwas zustößt.

KURIER: Wie sind Sie nach dem Plastik-Thema auf das Thema Überbevölkerung gekommen?Werner Boote: Nach „Plastic Planet“ haben viele gesagt, kein Wunder, dass wir so viel Müll machen, denn es gibt ja viel zu viele Menschen auf der Welt. Ich wusste nie, was ich darauf sagen soll und hab das immer nachgeplappert – das Problem kennt ja jeder von Staus oder endlos langen Supermarktkassen. Dann hat mich die Produktionsfirma gefragt, wovon mein nächster Film handeln sollte, und ich antwortete spontan: Überbevölkerung. Das Besondere an dem Film ist, dass sich die anfängliche Hypothese um 180 Grad gedreht hat. Es ist dann plötzlich in alle Richtungen gegangen, von politischen Systemen über Rassismus bis hin zu Umweltverschmutzung. Letztlich ist es ein Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit und Menschlichkeit geworden.

Wie lange haben Sie sich auf den Film vorbereitet?

Wir haben fast zwei Jahre recherchiert, ein Jahr gedreht und dann geschnitten.

Am Ende kommt heraus: Das Problem ist nicht die Überbevölkerung, sondern die Verteilung der Ressourcen. Ja, unter anderem. Wenn wir alle etwas ändern wollen, bekommen wir das Problem in den Griff. Ich glaube, das ist ein kleiner weiterer Schritt zu einer besseren Welt.

Das wird aber nicht gelingen, solange Banken und Ölmagnaten dagegen arbeiten. Man sagt so schnell, wir können eh nichts daran ändern. Dem ist aber nicht so. Wir sind alle an dem System beteiligt und es besteht schon die Chance, dass jeder Einzelne etwas tut. Die wahre Herausforderung ist es, jenen auf die Finger zu klopfen, die noch auf einem anderen Weg sind. Das fängt im Kleinen an, dass man zum Beispiel auf denjenigen zugeht, den man nicht kennt, dass man offener wird. Der generelle Gedanke der Überbevölkerung ist ja immer, dass „die anderen“ zu viel sind.

In der letzten Szene stehen Sie auf einem völlig überfüllten Zug in Bangladesch. War der Kameramann auch da oben? (lacht) Ja, man glaubt es kaum. Der ist noch viel verrückter als ich. Mit der Kamera dort hinaufzuklettern, war gar nicht so einfach. Aber jeder hat jedem geholfen, jeder hat seinen Nachbarn gehalten. Das war ein Wahnsinns-Erlebnis, völlig absurd, aber sehr emotional. Der zweite Kameramann stand auf der Brücke und hat danach bereut, dass er nicht mit uns am Zug war (lacht).

Gibt es schon ein neues Projekt? Schon vor zwei Jahren habe ich beim Filminstitut das Thema „Überwachung“ angemeldet. Da ist mir zwar Edward Snowden dazwischengekommen, aber dadurch ist das Thema immerhin topaktuell.

Warum soll man sich den Film anschauen? Ich glaube, die Leute haben sich noch nie so richtig darüber Gedanken gemacht, ob es wirklich zu viele Menschen gibt. Der Film ist kein Dokumentarfilm, bei dem man schon am Anfang weiß, wo er hinwill. Es ist eine unterhaltende Entdeckungsreise mit überraschenden Ergebnissen. Und: Der Film hinterlässt eine positive Stimmung. Aktuell gibt es zwar Probleme, aber man könnte sie in den Griff bekommen, wenn man sich von dem Weltbild, dass es zu viele Menschen gibt, verabschiedet.

Ausbildung

Werner Boote kam 1965 in Wien zu Welt, wo er später Theaterwissenschaft, Publizistik und Soziologie studierte.

Erfolge

Nach Regieassistenzen (u. a. bei Robert Dornhelm) begann Boote 1993, eigene Filme zu drehen. Seinen bisher größten Erfolg, den Dokumentarfilm „Plastic Planet“, sahen 120.000 Kinobesucher. 2010 wurde Boote dafür mit der KURIER ROMY ausgezeichnet.

Privat

Nach einem Zwischenstopp in Amsterdam lebt Boote heute mit seiner Frau in Wien.